Was ist eigentlich eine Depression?

 

In den Medien ist nahezu täglich von Burnout und Depression die Rede. Doch was ist eigentlich eine Depression genau?

In den klinisch-diagnostischen Leitlinien der ICD-10, der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen, wird die Depression den affektiven Störungen zugeordnet. Bei diesen Störungen bestehen die Hauptsymptome in einer Veränderung der Stimmung oder Affektivität. Dieser Stimmungswechsel wird meist von einer Veränderung des allgemeinen Aktivitätsniveaus begleitet. Die meisten anderen Symptome beruhen hierauf oder sind im Zusammenhang mit dem Stimmungs- und Aktivitätswechsel zu verstehen. Die meisten dieser Störungen neigen zu Rückfällen. Der Beginn der einzelnen Episoden ist oft mit belastenden Ereignissen oder Situationen in Zusammenhang zu bringen.

Bei einer typischen depressiven Episode leidet die betroffene Person gewöhnlich unter den folgenden typischen Symptomen:

  • gedrückte Stimmung,

  • Interessenverlust, Freudlosigkeit,

  • Verminderung des Antriebs, erhöhte Ermüdbarkeit.

Die Verminderung der Energie führt zu erhöhter Ermüdbarkeit und Aktivitätseinschränkung. Deutliche Müdigkeit tritt oft nach nur kleinen Anstrengungen auf.

Andere häufige Symptome sind:

  1. verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit,

  2. vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen,

  3. Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit,

  4. negative und pessimistische Zukunftsperspektiven,

  5. Suizidgedanken, erfolgte Selbstverletzung oder Suizidhandlungen,

  6. Schlafstörungen,

  7. verminderter Appetit.

Die gedrückte Stimmung verändert sich von Tag zu Tag wenig, reagiert nicht auf Lebensumstände, kann aber charakteristische Tagesschwankungen aufweisen. Das klinische Bild zeigt beträchtliche individuelle Varianten. In einigen Fällen stehen zeitweilig Angst, Gequältsein und motorische Unruhe mehr im Vordergrund als die Depression. Die Stimmungsänderung kann auch durch zusätzliche Symptome wie Reizbarkeit, exzessiven Alkoholgenuss, histrionisches (theatralisches, affektiertes, egozentrisches) Verhalten, Verstärkung früher vorhandener phobischer oder zwanghafter Symptome oder durch hypochondrische Grübeleien verdeckt sein.

Die Depression kann auch von so genannten somatischen Symptomen begleitet werden. Typische Merkmale des somatischen Syndroms sind:

  1. Interessenverlust oder Verlust der Freude an normalerweise angenehmen Aktivitäten,

  2. mangelnde Fähigkeit, auf eine freundliche Umgebung oder freudige Ereignisse emotional zu reagieren,

  3. Frühmorgendliches Erwachen, zwei oder mehr Stunden vor der gewohnten Zeit,

  4. Morgentief,

  5. deutliche psychomotorische Hemmung oder Agitiertheit (krankhafte Unruhe)

  6. deutlicher Appetitverlust,

  7. Gewichtsverlust, häufig mehr als 5 Prozent des Körpergewichts in einem Monat

  8. deutlicher Libidoverlust.

    Das somatische Syndrom wird nur dann diagnostiziert, wenn wenigstens vier der genannten Symptome eindeutig feststellbar sind.

Abhhängig von Anzahl und Schwere der Symptome wird eine depressive Episode als leicht, mittelgradig oder schwer bezeichnet:

Leichte depressive Episode

Bei einer leichten depressiven Episode liegen mindestens zwei der drei typischen und mindestens zwei der übrigen sieben Symptome vor. Kein Symptom sollte besonders ausgeprägt sein. Die Mindestdauer für die gesamte Episode beträgt etwa 2 Wochen. Die betroffene Person leidet unter den Symptomen und hat Schwierigkeiten, ihre normale Berufstätigkeit und ihre sozialen Aktivitäten fortsetzen, gibt aber ihre alltäglichen Aktivitäten nicht vollständig auf. Patienten mit leichten depressiven Episoden sind in der allgemeinen medizinischen Versorgung häufig.

Mittelgradige depressive Episode

Für die Diagnose einer mittelschweren depressiven Episode müssen mindestens zwei der drei typischen und drei bis vier zwei der übrigen sieben Symptome vorliegen. Einige Symptome sind in ihrem Schweregrad besonders ausgeprägt, oder es ist durchgehend ein besonders weites Spektrum von Symptomen vorhanden. Die Mindestdauer für die gesamte Episode beträgt etwa 2 Wochen. Die betroffene Person kann nur unter erheblichen Schwierigkeiten ihre sozialen, häuslichen und beruflichen Aktivitäten fortzusetzen.

Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome

Wenn eine schwere depressive Episode diagnostiziert wird, liegen alle drei typischen und mindestens vier andere Symptome vor, von denen einige besonders ausgeprägt sind. Allerdings ist es möglich, dass besonders agitierte oder gehemmte Patienten viele Symptome nicht in allen Einzelheiten beschreiben wollen oder können. Die Mindestdauer für die gesamte Episode beträgt etwa 2 Wochen. Wenn die Symptome jedoch besonders schwer sind und sehr rasch auftreten, kann es gerechtfertigt sein, die Diagnose nach weniger als 2 Wochen zu stellen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die betroffene Person während einer schweren depressiven Episode in der Lage ist, ihre sozialen, häuslichen und beruflichen Aktivitäten fortzusetzen, allenfalls sehr begrenzt. In der stationären Psychiatrie hat man es hauptsächlich mit Patienten mit schweren depressiven Episoden zu tun.

Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen

Bei einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen treten zusätzlich zu den beschriebenen Kriterien Wahnideen, Halluzinationen oder ein depressiver Stupor (Erstarrung als schwerste Form einer psychomotorischen Hemmung) auf. Der Wahn schließt gewöhnlich Ideen der Versündigung, der Verarmung oder einer bevorstehenden Katastrophe ein, für die sich der Patient verantwortlich fühlen kann. Die akustischen Halluzinationen bestehen gewöhnlich aus diffamierenden oder anklagenden Stimmen. Die Geruchshalluzinationen beziehen sich auf Fäulnis oder verwesendes Fleisch.

Weitere in der ICD-10 beschriebene Formen der Depression sind:

  • depressive Episode gegenwärtig remittiert:

    die Diagnosekriterien sind erfüllt, aber gegenwärtig und in den letzten Monaten bestehen keine depressiven Symptome,

  • sonstige depressive Episoden:

    atypisch, larvierte (maskierte) Depression,

  • rezidivierende depressive Störung:

    eine Störung, dir durch wiederholte depressive Episoden charakterisiert ist.

Ferner gibt es die bipolare affektive Störung, bei der einmal eine gehobene Stimmung, vermehrter Antrieb und Aktivität auftreten (Manie), dann wieder eine Stimmungssenkung, verminderter Antrieb und Aktivität (Depression). Manische Episoden beginnen i.d.R. abrupt und dauern zwischen 2 Wochen und 4 – 5 Monaten, die Depressionen dauern im Mittel etwa 6 Monate. Episoden beider Art folgen oft einem belastenden Lebensereignis oder einem anderen psychischen Trauma.

Außerdem beschreibt die ICD-10 anhaltende affektive Störungen wie z.B. die Dysthymia, eine chronische depressive Verstimmung. Das wesentliche Kennzeichen ist die langdauernde, depressive Verstimmung, die niemals oder nur selten ausgeprägt genug ist, um die Kriterien für eine rezidivierende leichte oder mittelgradige depressive Störung zu erfüllen. Sie beginnt gewöhnlich früh im Erwachsenenleben und dauert mindestens mehrere Jahre, manchmal lebenslang. Bei Beginn im höheren Lebensalter tritt die Störung häufig nach einer abgrenzbaren depressiven Episode, nach einem Trauerfall oder einer anderen offensichtlichen Belastung auf.

Kritik

Wenn ich das hier so schreibe, regen sich starke Widerstände in mir gegen die Begrifflichkeiten und die dahinter stehenden Haltungen. Natürlich, wir reden hier von Medizin, von Psychiatrie, von notwendigen Diagnosekriterien und Klassifikationen innerhalb eines bestimmten wissenschaftlichen, rechtlichen und medizinischen Systems. Die Fachleute diskutieren das schon lange kontrovers, immer und immer wieder. Und auch im ICD-10 finden sich an verschiedener Stelle Bemerkungen, dass bestimmte Differenzierungen lediglich bestimmten klinischen Erfordernissen geschuldet sind. Dennoch geht es hier letzten Endes um Begriffe wie „Störung“, gesund, krank usw. Das sind Polaritäten und Zuschreibungen, Stempel auf der Stirn von Menschen.

Als ich Sonderpädagogik studierte, hieß es in der Verhaltensgestörtenpädagogik (ja, damals hieß das noch so, heute haben diese Kinder und Jugendlichen einen „Förderbedarf im emotionalen und sozialen Bereich“ bzw. sind „komplex“), dass die Kids nicht verhaltensgestört sind, sondern durchaus angemessenes Verhalten angesichts gestörter Umstände zeigen. So ähnlich lassen sich vielfach, sehr verkürzt betrachtet, auch sogenannte „psychische Störungen“ einordnen.

Und im Zeitalter von Inklusion („Alle sind anders“) müssen wir uns ernsthaft fragen, ob eine solche Denke wirklich zeitgemäß ist bzw. den erkrankten Menschen gerecht wird? Ich antworte darauf mit einem klaren Nein, habe aber wenig Hoffnung, dass sich daran kurz- oder mittelfristig etwas ändern wird, ganz im Gegenteil…

Der schwarze Hund

Zum Schluss möchte ich unbedingt noch ein Buch vorstellen, das ein Gegengewicht zu dieser klinischen Nüchternheit, nämlich „Mein schwarzer Hund. Wie ich meine Depression an die Leine legte“ aufgeschrieben und bebildert von Matthew Johnstone. Der Autor ist kein Psychologe, Psychiater oder Spezialist auf dem Gebiet, sondern Betroffener. Das Buch soll kein Selbsthilfe-Buch sein, sondern eine visuelle Umsetzung dessen, was es bedeutet, an Depressionen zu leiden. Ich finde, das hat er großartig gemacht.

Ich zitiere vom Buchdeckel: „Ein schwarzer Hund läuft durch dieses Buch, von Seite zu Seite wird er größer, irgendwann ist er riesig, am Ende jedoch sitzt er brav und klein an der Leine: Der schwarze Hund, das ist die Depression, die Matthew Johnstone viele Jahre begleitete. Johnstone findet für diesen schwer fassbaren Zustand einfache, zwingende Bilder, die Betroffenen, deren Angehörigen und Freunden helfen können: Sich nicht alleine damit zu fühlen, sich mitteilen zu können, Verständnis zu entwickeln, miteinander darüber ins Gespräch zu kommen – und nie die Hoffnung zu verlieren.“

Und Stephen Fry meint: „Matthew Johnstone erzählt einfühlsam, mit Humor und größtem Verständnis etwas, wozu andere Bücher 300 Seiten brauchen. Ein großartiges Buch.“

Ja, so isset!

Die ersten Seiten des Buches:

Wenn ich zurückschaue, geisterte der Schwarze Hund durch mein Leben, seit ich Anfang zwanzig war.

Wann immer er sich blicken ließ, fühlte ich mich leer, und das Leben schien nur verlangsamt abzurollen.

Der Schwarze Hund konnte mich aus heiterem Himmel heimsuchen, scheinbar ohne jeden Grund.

Er schaffte es, dass ich mich älter fühlte und aussah, als ich in Wirklichkeit war.

Während alle anderen das Leben zu genießen schienen, sah ich es durch die Schwarze Hundebrille.“

Jede an Depressionen erkrankte Person ist eine individuelle Persönlichkeit. Daher ist auch der Weg der Bewältigung bzw. Heilung für jeden Menschen ein eigener. Wichtig ist es, niemals – niemals – niemals aufzugeben, denn der Schwarze Hund kann gezähmt und besiegt werden. Matthew Johnstone zitiert Winston Churchill in diesem Zusammenhang so wunderbar treffend: „Wenn du feststellst, dass du durch die Hölle gehst – geh weiter.“

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H. Dilling, W. Mombour, M.H.Schmidt (Hsg.): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F), Klinisch- diagnostische Leitlinien, 8. überarbeitete Auflage 2011

Matthew Johnstone: Mein schwarzer Hund. Wie ich meine Depression an die Leine legte. München 2008

Fotos: Pixabay

 

 

 

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