Unsere Glaubenssätze und Gewohnheiten hinterfragen
Jedes Kind kommt mit einem unglaublichen Potenzial zur Welt. Bereit, das Leben in seiner Gänze zu leben, zu entdecken und zu lieben. Unglücklicherweise erhält es oftmals von seiner Umwelt Botschaften, die es daran hindern.
Beispielsweise: „Die Welt ist ein gefährlicher Ort.“ Oder: „Das kannst du nicht“, „Das ist zu schwierig für dich“. Da ein Kind außer seinen Eltern (oder deren Stellvertretern) niemanden hat, der ihm als zentrale Bezugsperson oder Vorbild dienen könnte, übernimmt es deren Botschaften. Auch wenn das dazu führt, dass diese sein Leben beschneiden und es sich um die Lebensfreude bringt.
In der Transaktionsanalyse werden zwölf grundlegende „Verbote“ beschrieben, die viele Erziehende ihrem Kind – unbewusst – erteilen.
Die vier Grundverbote des Seins
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Sei nicht!
Das ist die Botschaft, die ein Kind hört, wenn die Eltern ihm sagen, dass es nicht geplant war, dass sie eigentlich gar kein Kind mehr wollten, dass es der Familie ohne Kind besser ginge.
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Sei kein Kind!
Zu dieser Schlussfolgerung kommt ein Kind, wenn es sich als Ältestes um seine jüngeren Geschwister kümmern muss.
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Werde nicht erwachsen!
Diese Botschaft senden Eltern bisweilen ihrem jüngsten Kind, wenn sie Angst davor haben, dass es flügge wird.
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Sei nicht du selbst!
Diese Botschaft verinnerlicht ein Junge oder ein Mädchen, wenn ihm die Eltern sagen, dass sie lieber ein Mädchen bzw. einen Jungen bekommen hätten.
Die vier Grundverbote des Fühlens
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Fühle nicht!
Wenn ein Kind feststellt, dass es zu seinen Eltern kein Vertrauen haben kann, seine Gefühle missbilligt werden bzw. wenn man ihm zu verstehen gibt, welche Gefühle in Ordnung sind und welche nicht, kommt das Kind zu dem Schluss, dass es gefährlich ist, sein Herz zu öffnen. In der Folge wird es seine Gefühle tief in sich selbst verschließen.
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Zeige deine Gefühle nicht!
Den gleichen Effekt hat es, wenn Eltern ihr Kind auffordern, seine Gefühle in der Öffentlichkeit nicht zu zeigen, sondern zu unterdrücken: „Hör auf zu heulen“, „Solange du zornig bist, gehst du in dein Zimmer und bleibst dort“, „Du bist nicht traurig, du bist nur müde“.
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Komm mir nicht zu nahe!
Das ist die Botschaft, die Eltern ihrem Kind senden, wenn sie seine Zeichen der Zuwendung zurückweisen oder es nie auf den Schoß nehmen oder nie mit ihm schmusen.
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Hab keinen Spaß!
„Du kannst erst spielen gehen, wenn du mit allen deinen Aufgaben fertig bist!“ Mit solchen und ähnlichen Botschaften hindern Eltern ihr Kind daran, Freude am Leben zu haben, und erreichen, dass es sich schuldig fühlt, wenn es Spaß hat.
Die vier Grundverbote des Handelns
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Tu nicht!
Ein Kind, das sich nicht zu bewegen wagt aus Angst, sich zu verletzen oder etwas schmutzig oder kaputt zu machen, wird in seinem Tatendrang behindert und gibt bald auf, seine Umgebung zu erkunden.
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Scheitere!
Es kann passieren, dass ein Elternteil eifersüchtig auf das Kind ist und fürchtet, von ihm überflügelt zu werden.
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Frag nicht!
Manchmal haben die Eltern Angst, ihr Kind könnte die Sprache auf gewisse Familiengeheimnisse bringen. Daher verbieten sie ihm, bestimmte Fragen zu stellen: „Frag nicht immer so dumm. Natürlich warst du ein gewünschtes Kind!“
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Denk nicht!
Die zentrale Botschaft dieses Verbots lautet: „Das verstehst du nicht.“ Als Folge wird das Kind irgendwann aufhören, Fragen zu stellen, und sich so einer wichtigen Möglichkeit berauben, seine Umwelt zu erkunden.
Natürlich ist es in den wenigsten Fällen so, dass einem Kind diese Grundverbote förmlich eingetrichtert werden. Oder dass sie ihm in dieser Form von seiner gesamten Umwelt entgegenschallen. Es erhält immer auch andere Botschaften auf einer anderen Wellenlänge und von anderen „Sendern“. Trotzdem hat ein Großteil unserer hinderlichen Glaubenssätze seinen Ursprung in Botschaften, die wir im Kleinkindalter empfangen haben. Und das Bild, das wir uns aufgrund dieser Glaubenssätze machen, gibt uns wiederum vor, wie wir das Leben, Menschen, Ereignisse und jeden einzelnen Augenblick unseres Daseins deuten und interpretieren.
Moralische und soziale Werte werden Kindern aber nicht nur durch die eben genannten Grundverbote vermittelt, sondern auch in Form sogenannter Antreiber. Sie haben die unangenehme Tendenz, unsere Anpassungsfähigkeit in Beziehungen einzuschränken, indem sie uns bestimmte starre Verhaltensweisen aufzwingen.
Die fünf Antreiber
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Sei stark!
Damit wird uns indirekt gesagt: „Bitte nicht um Hilfe“, „Gib dich unverwundbar“, „Du musst alleine zurechtkommen“.
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Sei perfekt!
Diese Botschaft führt bei den Betroffenen in der Regel zu dem inneren Zwang, immer und überall fehlerfrei und vollkommen sein zu müssen. Daraus resultiert das Bedürfnis, alles kontrollieren zu wollen. Die Umwelt und die Mitmenschen werden argwöhnisch beobachtet, um nur ja nicht von etwas Unvorhergesehenem „kalt erwischt“ zu werden.
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Streng dich an!
Übersetzt heißt das nichts anderes als: „Zeig immer volle Leistung und gib dir Mühe. Nur wenn du dich über die Maßen anstrengst und es dir richtig schwer machst, zeigst du deinen guten Willen.“
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Beeil dich!
Wenn wir als Kind diese Botschaft empfangen haben, dann lautet unser oberstes Gebot: „Die Zeit drängt!“. Wir taugen in unseren Augen nur dann etwas, wenn wir unsere Aufgaben und Arbeiten möglichst schnell erledigen.
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Mach mich glücklich
Kinder, die diese unbewusste Aufforderung empfangen, neigen als Erwachsene zur Überanpassung. Sie versuchen dann mit allen Mitteln, den Menschen in ihrer Umgebung gefällig zu sein. Nicht selten reiben sie sich dabei zwischen diesem Bemühen und ihren eigenen – unterdrückten – Wünschen auf.
Natürlich lassen sich diese Botschaften auch positiv formulieren:
„Du darfst um Hilfe bitten“,
„Du darfst Erfolg haben, ohne dich völlig zu verausgaben“,
„Du darfst deine Sache gut machen und darauf stolz sein“,
„Du darfst dir Zeit lassen“,
„Du darfst dir selbst eine Freude machen“.
Egal ob sie nun als Verbote oder Antreiber daherkommen: Alle diese Botschaften sind mitverantwortlich dafür, dass wir in bestimmten Vorstellungen über uns, unsere Mitmenschen und das Leben verharren, die uns daran hindern, unser volles Potenzial zu leben und zu innerer Ausgeglichenheit zu finden.
Die Fesseln hinderlicher Botschaften abstreifen
Der erste Schritt zu mehr persönlicher Freiheit besteht darin, herauszufinden, ob und welche dieser Botschaften uns vermittelt wurden. Dazu müssen wir uns als Erstes fragen, inwieweit wir uns selbst das Recht zugestehen, zu leben, wir selbst zu sein, unsere Gefühle auszudrücken, anderen Menschen körperlich und emotional nah zu sein, Spaß zu haben, erfolgreich zu sein, zu lernen sowie selbständig zu denken und zu handeln. Und wenn wir zu dem Ergebnis kommen, dass wir in uns und unserem Leben unnötig einengende Botschaften verinnerlicht haben, lautet die nächste Frage: Wie sehr hindern sie uns daran, unser ganzes Potenzial zu leben, uns frei zu fühlen und loszulassen, was uns einengt?
Die inneren Botschaften zu verändern geht aber nicht von selbst. Zunächst einmal müssen wir sie identifizieren, um sie im nächsten Schritt bewusst und geduldig durch neue zu ersetzen, indem wir uns selbst gute Eltern sind und uns erlauben, wirklich zu leben, uns auszudrücken, etwas zu erreichen und Spaß zu haben. Wir wagen uns dabei an Dinge, die uns bisher unmöglich schienen, und lassen so alte Verbote, Grenzen und hinderliche Glaubenssätze hinter uns.
Anfangs mag es uns vielleicht komisch, ungewohnt und irgendwie nicht ganz echt vorkommen, wenn wir uns plötzlich neue Dinge erlauben. Doch langsam, aber sicher werden unsere alten Überzeugungen modifiziert. Neue Erfahrungen treten an ihre Stelle und ermöglichen uns, die geistigen Fesseln abzustreifen. Doch es genügt nicht, nur zu wissen, dass wir uns verändern können. Wir müssen auch handeln und Neues praktisch erproben. Unsere neu gewonnene Überzeugung z.B., dass es sehr wohl erlaubt ist Gefühle auszudrücken, muss auch einmal dazu führen, dass wir es wagen, uns einem vertrauten Menschen zu offenbaren.
Dasselbe gilt für unsere inneren Antreiber. Haben wir sie erst einmal „dingfest“ gemacht, können wir uns nach und nach von ihnen freimachen. Dann wird sich unser Blick auf das Leben, die Menschen und Ereignisse wandeln. Wir müssen nicht länger perfekt sein und dies auch nicht von anderen verlangen. Wir können uns mit anderen vernetzen und arbeiten gemeinsam mit anderen auf unseren Erfolg hin.
Loslassen hat in erster Linie damit zu tun, wie wir die Dinge interpretieren. Sobald wir uns die Erlaubnis erteilen, nicht in jeder Situation perfekt, stark und schnell sein zu müssen, uns nicht immer anpassen oder ein Ziel um jeden Preis erreichen zu müssen, können wir das Leben mit heiterem Blick und einer gewissen Gelassenheit betrachten.
Sei die Person, die du bist.
Deine einzige Verantwortung besteht darin, ganz und im Einklang mit dir selbst das zu leben, was du bist.
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frei und zusammengefasst aus Rosette Poletti & Barbara Dobbs: Loslassen. Der Weg zu einem befreiten Leben. München 2014