Ann-Marlene Henning & Anika von Keiser:
Make More Love. Ein Aufklärungsbuch für Erwachsene.
Berlin 2014
Die Autorinnen
Ann-Marlene Henning
Ann-Marlene Henning, 1964 in Dänemark geboren, studierte Neuropsychologie in Hamburg und schloss anschließend in ihrer Heimat das Studium der Sexologie ab. Seit 2010 arbeitet sie als niedergelassene Psychotherapeutin mit den Schwerpunkten Paar- und Sexualtherapie in ihrer Praxis in Hamburg-Eppendorf.
Anika von Keiser
Anika von Keiser ist studierte Diplom-Physiotherapeutin und arbeitet seit 2012 freiberuflich mit ihrer Maßschreiberei–Manufaktor für Wortschätze, u.a. als persönliche Assistentin von Henning.
Der Klappentext
„Es ist nie zu spät für guten Sex.
Ob mit 45 oder 65, frisch verliebt oder in einer langjährigen Beziehung, Sex gehört für die meisten Menschen zu einem glücklichen Leben dazu. Doch obwohl überall und ständig über Sex geredet wird, gibt es auf viele Fragen kaum kompetente Antworten.
Make More Love zeigt Sex so, wie er ist und wie er sein könnte. Es soll mit Vorurteilen aufräumen, Mut machen, Neugier wecken, beraten, begleiten und Spaß machen.
Für den besten Sex in den besten Jahren:“
Wesentliche Inhalte des Buches
Im Vorwort betont Ann-Marlene Henning, dass man Liebe machen lernen kann und führt aus, welche Ziele ihr Buch verfolgt: Es möchte etwas bewegen, soll Antworten geben und Wissenslücken schließen, aufklären und anregen und nicht zuletzt Freude machen.
Im Kapitel „Let´s talk about Sex!“ beantwortet die Autorin Fragen wie: „Was ist Sex, und wer ist hier alt?“, „Spass wie noch nie – aber wie?“ und schreibt darüber, dass es Zeit für eine Ent-Schuldigung ist, denn „Schuld und Scham, zum Beispiel in Form eines schlechten Gewissens, weil man irgendwie etwas Verbotenes zu tun scheint, stehen noch immer vielen Menschen für ein entspanntes Sexleben im Weg.“ Ann-Marlene Henning lässt sich in ebenso erfrischender wie sachlicher Weise über Phänomene wie Körperfeindlichkeit, Tabus, dem Überfluss an pornografischen Abziehbildern und sexuelle Sprachlosigkeit aus.
Unter der Überschrift „Scham-Lippen und Penis-Protz“ thematisiert die Psychologin Hemmungen und Verklemmtheit und begegnet dem konstruktiv durch Bezeichnungen wie „Geschlechtslippen“ statt „Schamlippen“ – wobei ich persönlich den Begriff „Vulvalippen“ aus dem tantrischen Kontext gelungener und wesentlich schöner finde… Sie stellt heraus, warum Frauen von Anfang an schlechtere Karten hätten als Männer, wenn es um ihr Genital geht, und stellt sarkastisch fest: „Im Lauf der Jahrhunderte wurde die Klitoris von Wissenschaftlern ebenso oft neu entdeckt, wie man sie wieder verschwinden ließ“, wohingegen die männlichen Genitalien bis hin zum Ejakulat in derselben Zeit maximiert, verehrt und verklärt wurden.
Im dritten Buchkapitel über die Erregung beschreibt die Therapeutin das Anspringen des Erregungsreflexes und der Beckenbodenmuskulatur, während sie negative Praktiken des sexuellen Lernens durch Verbote kritisiert. Ermutigend ist der Hinweis, dass Selbstwahrnehmung Übungssache ist. Daran anschließend erklärt sie fachlich korrekt, aber keineswegs nüchtern-kalt, was bei wachsender sexueller Erregung alles passiert. Dabei räumt sie gleichzeitig mit Vorurteilen auf: „Entgegen einer weit verbreiteten Ansicht funktioniert die Lubrikation übrigens auch nach der Menopause. Sie hängt nämlich mit der Erregung und nicht mit dem Alter zusammen“. In humorvoller Weise veranschaulicht Henning die Rolle des Gehirns als „Schalt-, Verknüpfungs- und Wahrnehmungsinstanz“ und dessen zentrale Rolle für die Erregung mit dem Wesen des „Homunkulus“, einem Abbild aller sensorisch mit dem Gehirn verknüpften Körperteile des Menschen. Dann widmet sie sich ausführlich dem Orgasmusreflex, den sie als „Reflex mit zwei Gesichtern“ charakterisiert und anhand von zwei sehr unterschiedlichen Erregungskurven veranschaulicht.
Ebenso stellt Ann-Marlene Henning das spannende Konzept des Sexocorporel mit seinen drei Gesetzmäßigkeiten des Körpers vor. Sexocorporel ist das Konzept des Kanadiers Jean-Yves Desjardins, der 1968 in Montréal die weltweit erste sexologische Fakultät gründete. „Sexocorporel betrachtet den Menschen als untrennbare körperliche und seelische Einheit und geht davon aus, dass Sexualität in ihrer ganzen Vielfalt und der Genuss daran nicht angeboren sind, sondern ein Leben lang gelernt werden. Dabei wird der Blick dahin gerichtet, wo Sex und Genuss entstehen und erlebt werden, nämlich auf den Körper.“ Die Gesetzmäßigkeiten des Körpers werden dabei beeinflusst von der Muskelspannung („Hier ist Variation oft mehr“), der Geschwindigkeit von Bewegungen („In der Ruhe liegt die Lust“) und im Raum, den man mit dem Körper einnimmt („Mehr ist hier oft mehr“). Anschließend beschreibt sie die, nach Sexocorporel, vier Grundmodi von Erregungssteigerern.
Im Kapitel zum Thema „Wandel“ widmet sich die Autorin dem Klimakterium und seinen möglichen bzw. angeblichen Symptomen. Dabei findet sie ebenso klare wie tröstliche Worte: „Die Wechseljahre können viel mehr sein als ein irritierendes Durcheinander anstrengender Symptome und ein Prozess fortschreitender Entweiblichung. Frau kann sie als Möglichkeit zum Nachdenken und zur Neuausrichtung ihres Lebens sehen, als Auftakt zu einem neuen Lebensabschnitt mit neuen, besseren Regeln. In erster Linie geht es zunächst darum innezuhalten. Wer in sich hinein spürt, kann die Gefühle als Wegweiser für notwendige Veränderungen deuten. Unbearbeitetes aus der Vergangenheit kann in Angriff genommen und endlich geheilt werden. Oft finden Frauen dabei zu sich selbst und fangen an zu spüren, was sie wirklich wollen.“ Henning betrachtet die drei hormonellen Abschnitte eines Menschenlebens zwischen den Markierungspunkten Geburt – Pubertät – Meno-/Andropause – Tod und beschreibt das ewige Auf und Ab der Hormone. Sie teilt interessante Informationen zum limbischen System, dem sogenannten Reptiliengehirn, und ermutigt dazu, Gefühle zu zeigen.
Im folgenden Buchabschnitt zur Menopause räumt Ann-Marlene Henning mit dem Mythos auf, dass „bei Frauen ab fünfzig hormonbedingt permanente Sexflaute herrscht, weil sie ohnehin ausgetrocknet sind“, gibt Tipps zur Ermöglichung eines buchstäblich reibungslosen Sexlebens, schildert hormonelle Lust- und Frusterlebnisse, illustriert einen Umgang mit hinderlichen Symptomen der Wechseljahre und diskutiert die Vor- und Nachteile einer Hormontherapie sowie der Anwendung von Kräutern oder Hormonyoga.
Das Kapitel zur Andropause beschäftigt sich mit den Veränderungen der sexuellen Reaktion bei Männern ab durchschnittlich 50 Jahren. Nach Henning besteht die sexuelle Funktionalität eines Mannes im Grunde aus drei Fähigkeiten: der Erektion, der Ejakulation und der Zeugungsfähigkeit. Die Psychologin schreibt über die Prostata, Erektionsstörungen und eine chinesische „Reinkarnationsübung für den Penis“, den vorzeitigen Samenerguss und die Rolle des Kopfes bei der Entwicklung der Lust. Eine Tabelle gibt Aufschluss über „Erektionsfreunde“ wie z.B. Kenntnisse über den eigenen Körper und fortwährendes sexuelles Lernen sowie „Erektionsgegner“ wie z.B. eine allgemeine Unwissenheit über körperliche Zusammenhänge, Schuldgefühle, Stress und Angst. Schaubilder vermitteln Kenntnisse über verschiedene Erektionshilfen und klare Worte fallen über das veränderte Verhalten von Frauen und Männern in der Lebensmitte: „Männer brauchen nun selbst mehr Zuwendung und Zärtlichkeit, pflegen Intimität und lassen vieles langsamer angehen“, während Frauen nun empfundene Ungerechtigkeiten und Unzufriedenheit mit Missständen eher ansprechen, „weil es nicht länger zum weiblichen Programm gehört, die Beziehung um jeden Preis zu erhalten.“
Der Buchteil mit der Überschrift „Beziehungsweise“ widmet sich u.a. dem von Lars Tornstam entwickelten Konzept des „Gerotranszendens“. „Seine kontroverse Theorie geht davon aus, dass die Menschen in eine Art Altersweisheit hineinreifen, die einen inneren Perspektivwechsel mit sich bringt. Der Fokus verschiebt sich vom Materialistischen und Rationellen zum Kosmischen und Spirituellen. (…) Gerotranszendenz ist Weisheit, eine kaum greifbare Kombination aus Auffassungsgabe und Erfahrungswerten, Urteilsvermögen und Bildung. Das Resultat des Ganzen ist eine bewusstere Art der Existenz und das sichere Urteilsvermögen darüber, was realistischerweise erwartet und geleistet werden kann und was getrost ignoriert werden darf.“ Ferner beschäftigt sich Ann-Marlene Henning mit der Frage, ob mehr Zeit miteinander gleichzeitig mehr Lust bedeutet – ein „verliebtes Paar um die sechzig hat mehr Sex als ein gleichaltriges Paar, das schon 20 Jahre Beziehung hinter sich hat. Nicht das Lebensalter, sondern die Dauer der Beziehung scheint den Sex zu bedrohen.“ Gleichzeitig geht es um das Bedürfnis nach „Qualitätssex“. Henning zitiert in diesem Zusammenhang wichtige Ansätze der Paartherapeuten John Gottmann und David Schnarch und widmet sich intensiv den Themen von Nähe und Distanz. Das Kapitel endet mit sehr differenzierten Betrachtungen zum Themenbereich Erotik, Verführung, Begehren und Begierde.
Unter der Überschrift „Redebedarf“ geht es um die „persönliche sexuelle Landkarte“. Eine Checkliste mit verschiedenen Fragen wie z.B. „Kann ich sexuelle Wünsche und Bedürfnisse mitteilen?“ kann weiße Flecken aufspüren und sie füllen helfen. Die Therapeutin räumt mit dem Mythos auf, dass man automatisch Lust aufeinander hat, wenn man sich liebt und erklärt die Wirkung verschiedener körpereigener Drogen, der Hormone. Ann-Marlene Henning setzt sich intensiv mit biologisch und gesellschaftlich bedingten Rollenmustern auseinander und der „lebenslangen Hausaufgabe“ des Förderns der Beziehung. Sie macht hier noch einen Schlenker zu den fünf Sprachen der Liebe des amerikanischen Therapeuten Gary Chapmann: 1. Lob und Anerkennung, 2. Zweisamkeit – Exklusivzeit, 3. Geschenke, die von Herzen kommen, 4. Hilfsbereitschaft und 5. Zärtlichkeit.
Der Buchabschnitt zu den „Körperlichkeiten“ thematisiert das wirkliche Kennenlernen des eigenen Körpers, was ein bewusstes und neugieriges Hineinspüren mit einschließt, die Notwendigkeit der allgemeinen Entspannung, das Berühren der Partnerin/des Partners, Zahlen zur Schönheitschirurgie bei Frauen und Männern, Tantra, Handarbeit und Oralsex.
Im Kapitel „Übungsfelder“ widmet sich die Psychologin dem Beckenboden, verschiedenen Erektionsgraden im Laufe des Lebens, Slow Sex, dem Phänomen der weiblichen Ejakulation, verschiedenen Stosstechniken und Stellungen – „Im Grunde gibt es nur drei relevante Stellungen für Sex: die klassische Missionarsstellung (…), die Hündchenstellung (…) sowie die Reiterin (…). Alle anderen sind Abwandlungen.“ Außerdem geht es um Helferlein und Werkzeuge wie z.B. Gleitgel, Lustworte, Toys, Vibratoren oder erotische Filme, Spiele und Bücher. Sehr spannend ist auch der Unterpunkt „Lebe deine Räume“, wo die Autorin den Schlafraum, den Atemraum, den Mundraum, den visuellen Raum, den Gedanken-Spielraum und den Zeitraum beleuchtet.
Bei „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ äußert sich Henning zu sogenannten Störfällen beim Älterwerden, nämlich verschiedenen medizinischen Problemen, Erektionsstörungen und mögliche Abhilfen, Lustpillen für Frauen, einem postoperativem Sexleben und dem (Sex-) Leben im Altersheim.
Im letzten Kapitel zur Partnerwahl bespricht die Autorin Aspekte wie Treue, Partnersuche, dem Phänomen des Zusammenseins aus Gewohnheit und endet mit den Worten: „Es lebe die Liebe. Es lebe der Sex. Make More Love“.
Im Anhang findet sich weiterführende Literatur sowie eine Liste mit wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Zeitschriften, DVDs und CDs und Internetadressen.
Meine Meinung
Ein wichtiges, gutes und schönes Buch mit differenzierten Inhalten, die ebenso sachlich richtig wie knackig, offen und humorvoll präsentiert werden. Lustige Zitate berühmter Persönlichkeiten sorgen für die nötige Würze, Schaubilder und Graphiken veranschaulichen die Inhalte auf motivierende Weise. Bemerkenswert sind auch die Fotostrecken von fünf Fotograf*innen, die auf außergewöhnlich-gewöhnliche Weise Liebespaaren beim Leben und Lieben zuschauen. Außergewöhnlich sind die Fotografien insofern, als die Menschen keine Models sind, das Ambiente zwar ästhetisch, aber nicht inszeniert und die dargestellte Nacktheit trotz sichtbarer Erektionen usw. alles andere als pornografisch wirkt. Gewöhnlich insofern, als die Paare aus dem Leben gegriffen sind, keine Idealtypen repräsentieren und wir sie genauso beim Frühstücken und der Hausarbeit begleiten dürfen wie im Bett.
Ergänzend möchte ich noch, dass ich Ann-Marlene Hennings YouTube-Videos „doch-noch.de – Beratung in Beziehungsfragen“ ganz wunderbar finde: locker, klar, witzig. Auf jeden Fall ansehen: Das Video „Stoßtechniken – Live 2 (Folge3/3)“, in dem Jakob Olrik, ein befreundeter Kollege von ihr die Spatz–Wal – Stoßtechnik mit vollem Körpereinsatz voller Herz und Humor demonstriert – absolut großartig!!! 🙂
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Foto: Pixabay