Gerade unter der Dusche hatte ich plötzlich mal wieder eine Idee.
Geht das eigentlich nur mir so?
Auf jeden Fall hat mich diese Idee so begeistert, dass ich ganz schnell sah, dass ich fertig werde, um sie in die Tat umzusetzen. Es ist nämlich so, dass ich gerne und viel lese. Schon als Kind. Ich weiß nicht, von wem ich das habe. In meinem Zuhause standen zwar einige Bücher in der Wohnzimmerschrankwand (uh!) herum, aber es gab nicht gerade eine Bibliothek. Meinen Vater sah ich eher vor dem Fernseher als mit einem Buch in der Hand und meine blinde Mutter begann erst, Hörbücher zu hören, als ich sie ihr als Studentin von Hamburg nach Düsseldorf schickte. Ob ich meine Schwester je lesen sah, daran kann ich mich nicht erinnern. Aber mein großer Bruder, ja, der las für sein Leben gern und tut es immer noch. Und da ich alles können wollte, was er, meine erste große Liebe, konnte, lernte ich in der Schule ganz schnell lesen und besorgte mir ganz allein einen Ausweis für die öffentliche Bücherei in Düsseldorf, nur zehn Minuten zu Fuß von meinem Zuhause entfernt. Frisch in Hamburg besorgte ich mir dann auch gleich einen Leseausweis für die Bücherhallen, nachdem ich mich genug über den komischen Namen gewundert hatte.
Eigentlich lese ich immer. Zur Zeit mindestens sieben Bücher gleichzeitig. Davon sind die allermeisten Fachbücher, die ich häppchenweise lese, um sie besser aufnehmen zu können. Über Sylvester saß ich aber öfter mit meinem Liebsten lesend in einer kuscheligen Ferienwohnung mit Ofen in der Lüneburger Heide und kam gar nicht mehr von einem Buch los, das ich gerne aller Welt vorstellen möchte.
Here we go:
Clarissa Pinkola Estés: Der Tanz der Großen Mutter. Von der Jugend des Alters und der Reife der Jugend.
(The Dancing Grandmothers. To Be Young While Old, Old While Young.)
Heyne Verlag München, 3. Auflage 2007
Aus dem Klappentext:
„Clarissa Pinkola Estés, Jahrgang 1943, ist mexikanischer Herkunft und wurde als Kind von ungarischen Emigranten adoptiert. Sie hat in Etnologie und klinischer Psychologie promoviert und ist als Jungianische Psychoanalytikerin tätig. Ihr Buch ´Die Wolfsfrau` wurde in den USA über Nacht zum Kultbuch und weltweit zum Bestseller. Clarissa Pinkola Estés lebt in Wyoming und Colorado, wo man sie wegen ihrer erzählerischen Begabung mit dem Titel ´Cantadora` (Märchenerzählerin) auszeichnete.“
Auf „Die Wolfsfrau“ bin ich letztes Jahr in der Literaturliste eines anderen Buches gestoßen und habe es mir neugierig ausgeliehen, monatelang kapitelweise gelesen und dann schließlich verschenkt verschenkt, weil ich es so unglaublich profund finde. Darüber werde ich an hier zu einem späteren Zeitpunkt berichten.
Es ist naheliegend, dass die Begeisterung über ein Buch das Interesse an anderen Werken der Autorin weckt. In vielen Fällen führt das zur Enttäuschung, hier nicht. Als ich den „Tanz der Großen Mutter“ in den Ferien angefangen hatte, mochte ich das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen und wir legten mehrere ausgiebige Café-Besuche mit Lesen ein.
Allein schon der Anfang… Der ist wie eine Willkommens-Umarmung von einer schönen und warmherzigen Frau, die man gerade erst kennengelernt hat, sie aber nie mehr aus dem eigenen Leben entlassen möchte.
Lies selbst:
Du liebe tapfere Seele… Willkommen… Tritt ein, tritt ein… Ich habe auf dich gewartet … ja, auf dich und deinen Geist! Ich bin froh, dass du den Weg hierher gefunden hast… Komm, setz dich eine Weile zu mir. Wir wollen uns abseits der ´vielen unerledigten Dinge` etwas Zeit füreinander nehmen. Für alles andere wird später noch Zeit genug sein. Ich kann dir versichern, dass wir eines fernen Tages an der Himmelspforte nicht danach gefragt werden, wie gut wir den Bürgersteig gefegt oder mit wie vielen ´sehr wichtigen Kleinigkeiten` wir uns überhäuft haben. Eher wird man uns dort fragen, ob und wie wir uns entschlossen haben, wirklich zu leben. (…) Ich habe für uns ein Kaminfeuer entzündet; es wird die ganze Nacht brennen – lange genug für all die hier zu erzählenden ´Geschichten in den Geschichten`. Gib mir noch einen Augenblick Zeit, um den Tisch mit frischer Minze fertig abzuwischen. Hier, lass uns das gute Geschirr nehmen. Und lass uns trinken, was wir ´für einen besonderen Anlass` aufgespart haben. Glaub mir, wann immer die Seele die Führung übernimmt, ist ein solcher ´besonderer Anlass`.
Zitat-Ende.
Ist das nicht wunderschön? Warm umhüllend, liebevoll, achtsam, sinnlich. Und so geht es weiter. Clarissa Pinkola Estés schreibt in sieben Kapiteln voller Wärme, Klugheit und Weisheit über das Leben und die Liebe, den Schmerz und den Tanz, die Jugend und das Alter, von Paradoxien und Gleichgewichten, göttlichen Widersprüchen und dem faszinierenden Archetyp der weisen Frau. Sie schreibt von der Wichtigkeit, „weise und doch stets lernbegierig zu sein, spontan und zuverlässig, unbändig schöpferisch und aufrichtig, kühn und wachsam; die Tradition zu verteidigen und ein echtes Original zu sein.“ Pinkola Estés schreibt in wunderbaren Worten und ganz neuen Zusammenhängen von Verständnis und Vorherwissen, Seelenruhe, schöpferischer Kraft, Klarheit und Selbsterkenntnis ebenso wie von Verletzungen und Bruchlandungen, Katastrophen und Einbrüchen, Schmerzen und Verzweiflung. Sie betont die Wichtigkeit, das Leben bis zum Äußersten auszuleben, ganz und gar lebendig zu sein, trotz Hindernissen, Beschränkungen oder gar Verletzungen den Durchbruch zu schaffen zum wahren Leben. Ihr geht es darum, „so zu leben, dass andere dadurch beflügelt werden; auf seelenvolle Weise zu leben, damit die anderen sehen, wie das geht.“
Ob Frau Pinkola Estés selbst so lebt, kann ich nicht beurteilen. Schreiben tut sie auf diese Weise, kein Zweifel. Und immer wieder spricht sie auf zauberhafte Art von Mythen und Märchen: „Wann immer eine junge Frau Kummer hat, erscheint nur selten ein Prinz, viel häufiger dagegen eine weise alte Frau, die wie aus dem Nichts kommt, ihr Zauberpulver verstreut und mit ihrem Handstock in die Luft sticht“ und an anderer Stelle von einem „Mantel des leuchtenden Sonnenuntergangs oder der Mitternacht“.
Das Buch ist so wunderschön geschrieben, dass ich es am liebsten überall vorlesen oder zumindest hier ohne Ende zitieren möchte. Da ich jetzt aber schon wieder mehr als 1000 Wörter geschrieben habe, zügel ich mich langsam mal und haue nur noch ein paar wunderschöne Zitate aus dem letzten Kapitel mit der Überschrift „Gebete der Dankbarkeit“ heraus:
„Für all die Älteren in der Welt, die je erschaffen wurden, ob sie nun sanft auf den Wellen dahinglitten oder infolge von Stürmen und anderen Unwettern Schiffbruch erleiden mussten und sich lange genug an das Wrack klammerten, um den halben Weg zurück zu schaffen, dann endlich Land sichteten und auch erreichten… Für alle Älteren, die mit ihren Wechselfällen, Kümmernissen und Talenten jetzt scheu oder sicher, ziemlich zerzaust oder gepflegt dastehen, jedenfalls breithüftig und stolz… (…). Für sie … wollen wir Stärke und Heilkraft erbitten, die für immer in ihre mutigen Knochen strömen sollen. (…) Für sie … Mögen sie erkennen, wie wertvoll ihr Leben ist – und dass sie trotz aller Unzulänglichkeiten genau die Bollwerke, Prüfsteine, Grundtöne und Vorbilder sind, die gebraucht werden.“
Ich weiß, ich wiederhole mich, aber es ist ein Buch voller Liebe, voller Kraft, voller Zauber und wunderbarer Worte, es tröstet, ermutigt, erklärt, segnet und noch viel mehr.
Ein Buch wie ein Antidepressivum oder ein hübsche bunte Tasse mit goldenem Henkel und gefüllt mit leckerem dampfendem Tee, der Leib und Seele gut tut, mitten im grauen und nassen und kalten Winter in dieser Stadt im Norden.
Warme Empfehlung!
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Bild: Pixabay