Noch ein Buch über Depression. Weil es so ein weitverbreitetes und wichtiges Thema ist. Und weil der Autor das Phänomen so empathisch beschreibt. Eine Wohltat – trotz oder gerade wegen all der erschreckenden Klarheit in den Aufzählungen und Formulierungen.
Josef Giger-Bütler:
„Sie haben es doch gut gemeint“ – Depression und Familie.
Basel 2003
Der Klappentext
„Von der Krankheit Depression hört und liest man heute fast täglich. Aber wann verbirgt sich hinter emotionalen und körperlichen Zuständen wie Lustlosigkeit, Interesselosigkeit, Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit und Müdigkeit wirklich eine Depression? Der Schlüssel für die Beantwortung dieser Frage liegt für den Autor dieses Buches in der Kindheit und in der Familie. Hier werden die depressiven Verhaltensmuster geformt. Es handelt sich um Kinder, die sich ständig selbst überfordern, weil ihre Umgebung es von ihnen verlangt. Um Kinder, die versuchen, es allen Recht zu machen – außer sich selbst. Diese ´Zurücknahme` von der Welt geht soweit, bis von ihrem Selbst nicht mehr viel übrig geblieben ist. Aber diese Kinder funktionieren nach außen hin. Und genau hier liegt das eigentlich Krankmachende an der Depression, der lebenslange Kampf gegen die Selbstaufgabe, der, wenn er verloren wird, zur Aufgabe des eigenen Lebens führen kann.“
Der Autor
Josef Giger-Bütler, Dr. phil., ist seit Jahrzehnten in Luzern als Psychotherapeut in freier Praxis tätig. Neben Therapien umfasst sein Tätigkeitsgebiet Supervision und Ausbildung in personenzentrierter Psychotherapie. Sein Hauptinteresse gilt der Depression und psychosomatischen Erkrankungen.
Zur Depression
In der Einleitung schreibt Giger-Bütler zur Depression: „Wichtig ist, dass der Mensch sich spürt und ernst nimmt, was er will und braucht, dass er spürt, was ihm gut tut, wo seine Vorlieben und Grenzen, seine Möglichkeiten und Schwächen liegen, dass er sich wahrnimmt und respektiert, dass er von sich ausgeht, sich in seinen Entscheidungen mitberücksichtigt und sich als der sieht, der entscheiden kann, der gefragt werden will. Dann kann er etwas verändern, kann er seine Erwartungen zurückschrauben, wieder zu Kräften kommen und sich erholen, dann bleibt er gesund und kann sich entwickeln, dann kann er Ja und Nein sagen, läuft nicht Gefahr, ausgebrannt leer und unzufrieden zu werden. Zusammenfassend meint das, dass der Mensch die Möglichkeit und die Fähigkeit hat, sich zu verändern, sein Leben zu überdenken und sein Handeln zu reflektieren.“
Das Buch
Das Buch ist in in 5 Teile und 14 Kapitel unterteilt:
TEIL 1: ANNÄHERUNG AN DIE DEPRESSION
1. Kapitel:
Überforderung und Depression – Eine unheilvolle Allianz
Giger-Bütler stellt hier erste Fragen und gibt erste Antworten wie z.B. eine erste Definition der Depression.
2. Kapitel:
Die Depression als Resultat einer depressiven Überforderungs- und Lebensstrategie
Der Autor betont, dass der betreffende Mensch in einer depressiven Überforderung gefangen ist, was sich auf sein gesamtes soziales Umfeld auswirkt.
3. Kapitel:
Fallbeispiele
Im dritten Kapitel werden die bislang eher theoretischen Ausführungen durch das Fallbeispiel eines Mannes und einer Frau veranschaulicht.
4. Kapitel:
Die populäre Betrachtungsweise der Depression und warum sie falsch ist
Im letzten Kapitel des ersten Teils macht Giger-Bütler deutlich: „Die Depression ist kein Zustand, der Gewinn und Zuwendung bringt. Das Gegenteil ist der Fall: Die Depression isoliert den depressiven Menschen und wertet ihn ab.“
In vielen konkreten Punkten beschreibt er das Denken, Fühlen und Verhalten depressiver Menschen und veranschaulicht so den Teufelskreis der Depression.
TEIL 2: KRANK MACHENDE BEDINGUNGEN IN DER KINDHEIT
5. Kapitel:
Die Depression entsteht in der Familie
Giger-Bütler beleuchtet hier zwei Hauptpunkte:
-
Familiäre Konstellationen und
-
wie sich aus der Konstellation das „depressive Muster“ ergibt.
Bei den familiären Konstellationen untersucht er 1. die „normale“ Familie, 2. Mütter, die sich kümmern und „nur das Beste wollen“, 3. Väter mit hohen Erwartungen, 4. autoritäre Väter, 5. dienende, aufopfernde Mütter, 6. starke, bestimmende Mütter und 7. depressive Mütter und Väter.
TEIL 3: DIE GRUNDLEGUNG DEPRESSIVEN VERHALTENS
6. Kapitel:
Die Reaktionen der Kinder als depressionsbildende Faktoren
Gleich zu Beginn des Kapitels macht Giger-Bütler deutlich, welches Kind mit größter Wahrscheinlichkeit nicht in eine depressive Überforderung hineingeraten wird: das Kind, das sich wichtig nimmt und seine Bedürfnisse durchsetzt, sich wehrt und Aufmerksamkeit und Zuwendung fordert, das unbequem und anspruchsvoll ist.
In der Folge untersucht er 1. das sich um jeden Preis anpassende Kind, 2. den Rückzug, 3. Konfliktvermeidung und Angst, 4. das „Helfersyndrom“, 5. Überforderung und 6. Trauer und Liebe.
7. Kapitel:
Sein oder Nichtsein – Kindheit und Depression.
Das Erleben und Verhalten der Kinder, die später depressiv werden können, beschreibt Giger-Bütler so: Sie entwickeln sich durch einseitige und ausgeprägte Anpassung, durch Bildung eines negativen Selbstbildes, mit einer geringen Ausformung von Identität und Autonomie, ohne Etablieren eines Grundvertrauens, mit geringer Entwicklung eines eigenständigen Selbstwertes und ohne Ausrichtung auf eine starke und gesunde Persönlichkeit hin.“
TEIL 4: DAS ERWACHSENE DEPRESSIVE VERHALTEN
8. Kapitel:
Der Weg von der kindlichen zur erwachsenen Depression.
Giger-Bütler beschreibt die Depression als einen in der Kindheit beginnender Prozess, in dem „die Maschen einer latenten Depression immer enger und ganzheitlicher gestrickt (…) werden. Eine logische Fortsetzung ist die chronische Erschöpfung, dann der Zusammenbruch mit dem Auftreten der manifesten Depression“.
Maßgebend ist dabei, dass die Verarbeitungs- und Reaktionsmuster verstärkt und
verabsolutiert werden. Auf diese Weise wird aus der LATENZDEPRESSION eine MANIFESTDEPRESSION.
9. Kapitel:
Depressive Persönlichkeit und depressive Lebensstrategie
Giger-Bütler stellt hier einen depressiven dem nicht-depressiven Umgang mit
Leistungsanforderungen gegenüber. Dabei führt er plastisch aus, wie ein depressiver und ein nicht depressiver Mensch mit sich selbst sprechen.
10. Kapitel:
Die latente und manifeste Depression.
Giger-Bütler spricht von einer Latenzdepression, wenn er „die von außen nicht fassbare, nicht deklarierte und als solche nicht diagnostizierte Depression“ meint. Sie kann entweder immer latent bleiben oder in eine manifeste Form wechseln.
Von einer Manifestdepression spricht er, „wenn sich die innere Dynamik der depressiven Überforderung, das innere Handeln im äußeren Verhalten sichtbar manifestiert.“
„Um vom Ende einer Depression zu sprechen, bedarf es einer Veränderung der inneren Dynamik, einer Veränderung der depressiven Muster und Strukturen, einer anderen Qualität des Verhaltens und neuer persongerechter Verhaltensmuster, es bedarf eines positiven Selbstwerts und einer stabilen Identität, eines Durchbrechens des depressiven Kreises und eines Aufgebens von Überforderungsstrategien.“
Mit anderen Worten: „Ein Aussteigen aus dem depressiven Muster ist möglich. Eine wirkliche Besserung ist möglich, wenn ein radikales Umlernen stattfindet.“
„Medikamente lindern das depressive Empfinden oder können es auch zum Verschwinden bringen. Sie beseitigen aber den depressiven Zirkel, die Muster der Überforderung nicht. Damit ist auch gesagt, dass Medikamente häufig notwendig sind, um überhaupt leben zu können, dass sie aber nicht in der Lage sind, Depressionen zu heilen.“
11. Kapitel:
Emotionale und körperliche Symptome der Depression.
Giger-Bütler geht von einer dreifachen Bedeutung der emotionalen Symptome einer manifesten Depression aus:
1. sind sie Ausdruck der depressiven Grundstimmung,
2. sind sie das Ergebnis der depressiven Überforderungsstrategie und
3. sind sie Reaktionen des Menschen auf die Depression und auf die Diagnose.
12. Kapitel:
Der Endzustand der Depression
„Ein mögliches Ende sowohl der Latenz- wie der Manifestdepression ist die Erschöpfung, wenn der depressive Mensch physisch und psychisch am Ende ist und der Körper nicht mehr mitmacht und streikt.“ Auf diese Weise stellt die Erschöpfung in gewisser Weise eine Erlösung aus einem unerträglichen und unhaltbare Zustand dar.
TEIL 5: ERKENNEN UND VERÄNDERN
13. Kapitel:
Das Erkennen (die Diagnose) der depressiven Lebensstrategie und Persönlichkeitsstruktur
Am Ausgangspunkt der Diagnostik steht nach Giger-Bütler immer die Frage nach dem WIE: Wie geht die Person mit sich um? Wie steht sie zu sich? Wie wirkt sich das auf den Betrachter aus? Die Frage nach der Beziehung zu sich ist die zentrale Frage nach der Depression.
14. Kapitel:
Wege aus der manifesten Depression.
Das letzte Kapitel widmet sich der Frage, welche Richtung ein depressiver Mensch einschlagen muss, um ein neues Leben ohne Depression beginnen zu können.
Wichtig ist dabei an erster Stelle, „sich einzugestehen und anzunehmen,
– dass es nicht mehr weitergeht auf dem bisherigen Weg,
– dass es ein falscher Weg war,
– dass er in eine Sackgasse geführt hat und verantwortlich ist für den aktuellen
Zustand.
„Verstehen und Annehmen sind die Zauberworte“, schreibt der Autor. Mit dem Verstehen und Annehmen beginnt der Ausstieg aus der Depression.
Das Ziel
Worum geht es beim Ausstieg aus der Depression?
Giger-Bütler antwortet: „Ein Mensch zu werden, der sich versteht, der sich in seiner ganzen Unvollkommenheit annehmen und lieben kann und fähig ist, auf andere zuzugehen, der zu Menschen und der Welt in Beziehung treten kann und der intensiv Liebe zu geben und zu empfangen in der Lage ist. Er soll frei werden von seinen depressiven Mustern und handeln können, ohne sich zu überfordern.“
„Dieser Weg ist ein Prozess des ständigen Fragens und Entscheidens.“
„In den meisten Fällen geht es nicht ohne Hilfe einer Psychotherapeutin, eines Psychotherapeuten, die die nötige Distanz, Erfahrung und Kompetenz besitzen, einen depressiven Menschen zu begleiten, und die ihm die Hilfe geben können, die er für diesen Weg braucht.“
Das neue Credo heißt:
Ich bin die oder der, die oder der ich bin.
Ich bin gut, weil ich so bin, wie ich bin.
So, wie ich bin, bin ich gut.
Meine Meinung
Ich stimme dem Text auf dem Buchrücken zu: „Verständlich, einfühlsam und weitgehend unter Verzicht auf fachpsychologische Begriffe beschreibt der Psychotherapeut Josef Giger-Bütler die Familienkonstellationen und Erziehungsstile, die zur Entwicklung depressiver Verhaltensmuster in der Kindheit führen und die später maßgeblich die Depression im Erwachsenenalter bestimmen.“
Und dem Resümee der Neuen Züricher Zeitung: „Ein Buch, das klar strukturiert, sehr gut verständlich und einfühlsam das Krankheitsbild erklärt und Wege aus der Dunkelheit aufzeigt.“
Dabei möchte ich unbedingt die Empathie betonen. Der Autor schreibt so wunderbar einfühlsam, dass es eine Wohltat ist. Dabei erliegt er an keiner Stelle der Versuchung, Dinge weich zu zeichnen oder zu verschleiern. Ganz im Gegenteil, er redet Tacheles und legt die Karten auf den Tisch. „Let´s face the facts“ ist auch mein Motto. Daher: Unbedingt empfehlenswerte Fachlektüre!
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Foto: Pixabay