Liebe oder: Der AMEFI-Komplex

Michael Mary:

Lebt die Liebe, die ihr habt. Wie Beziehungen halten.

Reinbek bei Hamburg, 2008

Der Klappentext

Michael Mary schlägt eine neue Sichtweise auf Beziehungen vor. „Statt der üblichen Partner-Perspektive, die immer nur den Einzelnen im Blick hat, legt er Paaren die Beziehungs-Perspektive ans Herz. Denn eine funktionierende Beziehung hängt weniger von den Absichten des Einzelnen ab, sondern vielmehr von den sich gegenseitig bedingenden Reaktionen aufeinander, die nur begrenzt lenkbar sind. Der erfahrene Paarberater macht deutlich, welchen Einfluss Partner tatsächlich auf ihre Beziehung haben, und zeigt, wie diese halten kann.“

Der Autor

Michael Mary ist Jahrgang 1953 und Psychiater. Er führt seit 1980 Paar- und Einzelberatungen sowie Seminare und Fortbildungen zu den Themen Partnerschaft und Persönlichkeitsentwicklung durch. Dies geschieht auf der Grundlage der von ihm entwickelten Methode „Erlebte Beratung“. Mary hat diverse erfolgreiche Bücher veröffentlicht, zum Beispiel „5 Lügen, die Liebe betreffend“, „5 Wege, die Liebe zu leben“, „Der kleine Paarberater“ sowie „Und sie verstehen sich doch“.

Das Buch


Michael Mary geht in seinem Buch der Frage nach, wie Beziehungen halten. Er weist darauf hin, „dass in Zeiten der Individualisierung auch Beziehungen individualisiert sind. An Beziehungen allgemeingültige Maßstäbe anzulegen wird der Mehrzahl der Beziehungen nicht gerecht. Auch sogenannte wissenschaftliche Maßstäbe helfen da nicht weiter. Beispielsweise gilt es in der Paartherapie inzwischen als ausgemacht, dass Streit notwendig ist, um eine Beziehung zu erhalten.“ Auch kritisiert er die weit verbreitete Überzeugung, Beziehungen würden auf gutem Sex beruhen und stellt dem Untersuchungen gegenüber, nach denen nur 4% Wert darauf legen (!). Nicht zuletzt scheint es auch so zu sein, dass Beziehungen nicht umso länger halten, je gründlicher Partner ihre psychischen Probleme ausgeräumt haben. Vielmehr kommt er „zu dem Schluss, dass viele Beziehungen gerade aufgrund neurotischer Persönlichkeitsanteile der Partner halten“.

Mary stellt in seinem Buch die Partner-Perspektive (was Partner voneinander haben wollen) der Beziehungs-Perspektive (Was Partner miteinander haben können) gegenüber. Er beschreibt den AMEFI-Komplex und Versuche, Beziehungen durch zielgerichtete Manipulation zu erhalten. Schließlich veranschaulicht er Möglichkeiten, sich auf die Beziehung einzustellen und sie wertzuschätzen, erläutert das Geheimnis glücklicher Paare und einen guten Umgang mit schwierigen Situationen und Phasen.

Der AMEFI-Komplex

Michael Mary zählt die 11 gängigsten Erwartungen auf, die Menschen in eine Beziehung einbringen:

  1. Bestätigung für individuelle Eigenarten der Partnerin/des Partners,

  2. Verständnis für das eigene Verhalten,

  3. emotionale Zuwendung und Anteilnahme,

  4. körperliche Nähe und Zärtlichkeit,

  5. Begehren und sexuelle Leidenschaft,

  6. geteilte Ansichten und Einstellungen,

  7. geteilte Freizeitinteressen,

  8. gegenseitige materielle Absicherung,

  9. alltägliche Unterstützung,

  10. gemeinsame Lebensprojekte und

  11. gemeinsame Zukunftsvorstellungen

Mary räumt ein, dass uns die meisten dieser Anforderungen selbstverständlich erscheinen, da wir sie alle haben und sie kaum in Frage stellen. Auf der anderen Seite macht er deutlich, dass da viel zusammen kommt. Wenn du dann noch den Zusatz „für immer“ und die Voraussetzung „mit einer Person“ hinzufügst, „dann wird der ganze Umfang dieser scheinbar so selbstverständlichen Ansprüche deutlich. Der Autor bezeichnet „eine solche Vorstellung, nach der sämtliche grundlegenden Bedürfnisse nach menschlicher Verbundenheit mit einem einzigen Menschen – dem Beziehungspartner – erfüllt werden sollen, als die AMEFI-Vorstellung: Alles-Mit-Einem-Für-Immer.

Gründe für den AMEFI-Komplex

Michael Mary geht davon aus, dass das AEMFI-Ideal wohl bei fast 100% der Paare zu finden ist. „Es ist derart verbreitet, dass es – völlig unabhängig davon, wie die Realität aussieht – kaum in Frage gestellt wird.“

Seiner Ansicht nach hat das zwei Gründe:

Zum einen die wunderbare Ganzheitserfahrung des verliebten Anfangs. Zum anderen eine Vielzahl gesellschaftlicher Verklärungen. Diese beruhen darauf, dass der AMEFI-Komplex das Beziehungsideal eines ganzen Kulturkreises ist. Leider wird dabei unter den Teppich gekehrt, dass es zu keiner geschichtlichen Zeit verwirklicht wurde. Mehr noch: „Wir halten die AMEFI-Vorstellung sogar für natürlich, dabei ist die westliche Kultur die einzige, die an diesem Mammutprojekt arbeitet, und das auch erst seit knapp 300 Jahren und mit abnehmendem Erfolg.“

Die Frage, die im Buch im Vordergrund steht, lautet: „Lässt sich der heilsame Eindruck der Einheit mit dem Partner auch dauerhaft aufrechterhalten?“ Der Paartherapeut führt aus, dass die Partner die Wahl zwischen zwei Idealisierungen haben: „der Überhöhung der verliebten Liebe im Himmel und der Überhöhung der Alltagsliebe auf dem Boden.“ Er selbst hält beide für begrenzt und strebt einen anderen Umgang mit der Liebe an (s.u.). Dennoch erfüllen beide ihren Zweck: „Die Idealisierung der verliebten Liebe brauchen wir, um eine Beziehung einzugehen, und die Idealisierung der Alltagsliebe, um diese Beziehung durchzuhalten.“

3 unterschiedliche Formen der Liebe

Mary macht in seinem Buch deutlich, dass es statt einer „wahren“ drei unterschiedliche Formen der Liebe gibt, die unterschiedliche Aufgaben erfüllen:

1. die partnerschaftliche, 2. die leidenschaftliche und 3. die freundschaftliche Liebe.

  1. Die partnerschaftliche Liebe

    Die partnerschaftliche Bindung zwischen Männern und Frauen diente traditionell der Sicherung des Überlebens. Ihre Aufgabe lag zuerst allein in der gemeinsamen Produktion von Nachwuchs, später auch in der gemeinsamen Produktion von Gütern. Diese beiden unverzichtbaren Aufgaben weisen auf eine enge Verbindung der Partnerschaft mit der wirtschaftlichen Entwicklung hin.“ An erster Stelle stehen hier also materielle und keine emotionale Gesichtspunkte. Unter heutigen Lebensbedingungen brauchen sich Partner nicht mehr, um ihr materielles Überleben zu sichern. „Die heutige Lebenspartnerschaft dient der Lebensbegleitung, der gemeinsamen Bewältigung des Alltags und/oder einem gemeinsamen Berufs- oder Familienprojekt. (…) Lebenspartner sind Partner, deren Liebe sich in der gegenseitigen Sorge um- und füreinander ausdrückt.“

  2. Die leidenschaftliche Liebe

    Eine leidenschaftliche Bindung erfüllt ganz andere Aufgaben als eine Partnerschaft. In einer Liebesbeziehung wird „der Eindruck psychischer Einheit erzeugt. Obwohl die Partner zwei getrennte Menschen sind und bleiben, fühlen sie sich in der Leidenschaft miteinander verschmolzen. (…) Damit dieser Eindruck entstehen kann, ist die Leidenschaft ganz besonders auf die körperliche Verbindung der Partner angewiesen. Deshalb spielen Sexualität und Erotik die wesentlichsten Rollen in der leidenschaftlichen Liebe. Körperliche Nähe und die intime sexuelle Verbindung intensivieren das Einheitserlebnis stärker, als Emotionen allein das tun können.“ Psychologen führen diesen Wunsch nach Einssein und Verschmelzung auf ein Bedürfnis zurück, sich ab und zu „aus dem Käfig seiner Psyche“ zu befreien. Hinter der Liebesbindung steckt also ein Bedürfnis nach Selbstüberschreitung, Selbstauflösung oder Selbsttranszendenz.

  1. Die freundschaftliche Liebe

    Eine freundschaftliche Bindung zwischen Männern und Frauen bestand wie die anderen Bindungsformen zu allen Zeiten, allerdings kam ihr in Ehen und reinen Liebesbeziehungen keine vorrangige Bedeutung zu.“ Die Aufgaben einer freundschaftlichen Bindung bestehen hauptsächlich in der gegenseitigen Bestätigung des Wesens und im Ausleben gemeinsamer Interessen. Freundschaft beruht auf Sympathie und Gegenseitigkeit und lebt vom praktizierten Wohlwollen, das sich in gegenseitigen Gefälligkeiten erweist. Außerdem gibt es eine Art Loyalitätspflicht der Freundin/dem Freund gegenüber.

    Zusammenfassend schreibt Mary, dass die unterschiedlichen Formen der Liebe zwischen Mann und Frau lange Zeit relativ getrennt voneinander gelebt wurden, auch wenn es immer mal wieder Vermischungen gab. Die Idee, dass sie alle zusammengehören, beruht auf einem gesellschaftlich vorgegebenen Beziehungsideal, das er so auf den Punkt bringt: Die modernen Beziehungspartner sollen einen Ausflug in den Liebeshimmel machen und sich dort ineinander verlieben, die Liebe anschließend auf den Boden einer Lebenspartnerschaft bringen und sich schließlich bei Konflikten dieser beiden Liebesformen von der freundschaftlichen Liebe helfen lassen, indem sie sich in ihrem persönlichen Wachstum unterstützen.

Die Beziehungsperspektive

Michael Mary hält die Partner-Perspektive – dauerhaft alle mögliche Liebe miteinander haben können – für falsch. Denn zwei Geliebte taugen nicht unbedingt als Lebenspartner. Wenn zwei eine gute Lebenspartnerschaft hinkriegen, können sie vielleicht nicht dauernd Geliebte füreinander sein. Und wenn zwei eine freundschaftliche Liebe entwickeln, können sie nicht notwendigerweise auch leidenschaftliche Liebhaber oder gute Lebenspartner sein. Die Beziehungs-Perspektive orientiert sich daher an den Möglichkeiten einer konkreten Beziehung und fragt: „Was ist zwei bestimmten Menschen miteinander möglich?“.

Mary betrachtet Beziehungen als eine Geschichte sich bedingender Reaktionen. Überraschungen sind dabei unvermeidlich, weil die Partner nicht wissen können, wie sie in bestimmten Situationen und Konstellationen aufeinander reagieren. Diese Reaktionen, die auf Reaktionen erfolgen, bringen erneute Reaktionen hervor usw. Im Laufe einer Partnerschaft können die Beteiligten von vielen Entwicklungen überrascht werden, z.B. in Bezug auf Zusammenziehen, Kinderwunsch, Vermögensverhältnisse, Sexualität, Interessen, Gesundheitszustand u.v.a.m. Deshalb ist eine Beziehung „ein sich ständig entwickelnder Vorgang, ein unendlicher Verlauf gegenseitiger Reaktionen der Partner aufeinander.“ Und deshalb sind Beziehungen weniger berechenbar, als Partnern das vielleicht recht ist. Manchmal hat sich quasi wie von selbst eine bestimmte Beziehung gebildet, eher partnerschaftlich oder freundschaftlich oder leidenschaftlich.

Möglichkeiten, sich auf die Beziehung einzustellen

In seinem Fazit zum Buch schreibt Mary: „Wenn Sie zuvor ein Anhänger der AMEFI-Vorstellung waren und jetzt, am Ende des Buches, folgende Aussagen unterschreiben können, dann habe ich meiner Meinung nach gute Arbeit getan und vielleicht sogar dazu beigetragen, dass Sie Ihre besehende Beziehung trotz scheinbarer Unvollkommenheit in einem anderen Licht sehen:

  • Alles-Mit-Einem-Für-Immer-Beziehungen sind eine zugegeben schöne Illusion. Partner können den Eindruck gewinnen, alles miteinander zu haben, aber dieser Eindruck hält nicht ewig. Dennoch können Beziehungen genug geben und für die Partner wertvoll genug sein, um sie aufrechtzuerhalten, gern auch lebenslang.

  • Konfliktfreie Beziehungen sind unmöglich, weil Partner erst an Konflikten merken, dass sie sich selbst verändert haben. Beziehungen brauchen diese Konflikte sogar, um sich regulieren zu können oder, anders gesagt, um Partner zu einer Anpassung an Veränderungen zu bewegen.

  • Eine Beziehung geht nicht deshalb weiter, weil die Partner alles richtig machen, sondern weil sie das Scheitern von Erwartungen, Hoffnungen, Plänen und Absichten gemeinsam bewältigen wollen.

  • Illusionen loszulassen kann mitunter schwer sein, danach aber hat man die Hände frei, um das anzupacken, was miteinander möglich ist.

  • Es gibt so viele unterschiedliche Beziehungen, wie es unterschiedliche Menschen gibt. Ich muss in kein Konzept passen, sondern kann die Beziehungsform entdecken, die zu mir/uns passt.

  • Eine Beziehung muss nicht alles geben, es genügt, wenn sie schön ist, wenn sie wertvoll ist, wenn sie zufrieden macht, wenn das Leben mit ihr besser scheint als das Leben ohne sie.

  • Wenn eine Beziehung beim besten Willen und trotz aller Bereitschaft, sie auszuloten, unzufrieden macht, ist es völlig in Ordnung, sich zu trennen. Das bedeutet kein Versagen, sondern es bedeutet:: ´Mehr war uns miteinander nicht möglich.`

  • Es gibt ein Leben, unabhängig von der Beziehung. Je klarer sich die Partner die Erlaubnis dazu geben, desto mehr ist ihre Beziehung von überzogenen Erwartungen entlastet.“

Das Geheimnis glücklicher Paare

Das Geheimnis von Langzeitpaaren ist relativ leicht gelüftet, meint Mary: „Diese Paare stellen sich auf ihre Beziehung ein und erwarten nicht, dass ihre Beziehung sich vollständig nach den individuellen Wünschen der Partner richtet. Man kann es auch so ausdrücken: Die Langzeitpaare leben das Optimum dessen, was ihnen miteinander möglich ist, anstatt alles voneinander haben zu wollen, was sie sich erträumen“ und: „Die Langzeitbeziehung ist eine konkrete Antwort auf die Frage, was zwei bestimmten Menschen miteinander möglich ist..“ Dabei plädiert Michael Mary für Ehrlichkeit im Sinne von: „Ich möchte gar nicht alles mit dir haben, denn mit anderen Menschen lassen sich bestimmte meiner Bedürfnisse viel besser erfüllen – und ich möchte das auch tun.“ Er betont, dass Partner auch ein individuelles Leben haben und sie sich dieses Leben im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch zugestehen sollten, wenn sie ihre Beziehung damit von überhöhten Ansprüchen und Erwartungen entlasten können. Es geht also darum, die mögliche Liebe zu leben und sich Freiräume lassen, soweit sie beiden möglich sind: „ein eigenes Leben unabhängig von der Beziehung zu haben und ein solches dem Partner zu gönnen gehört sicher auch zu den Geheimnissen glücklicher Paare.“

Umgang mit schwierigen Situationen und Phasen

Michael Mary ist davon überzeugt, „dass Probleme stets Lösungsansätze enthalten.“ Partner zeigen ein bestimmtes Verhalten. So fängt eine Beziehung z.B. mit Harmonie an. Die Partner nehmen Rücksicht aufeinander, gehen aufeinander ein, hören einander zu und tun viel füreinander. Nun bricht irgendwann immer öfter Streit aus und beide werfen sich gegenseitig Egoismus vor. Auf den ersten Blick mag es so erscheinen, dass Egoismus das Problem und Rücksichtnahme die Lösung ist. Laut Mary ist es aber umgekehrt: „Die Rücksichtsvollen haben das Problem geschaffen, indem sie Unterschiede unter den Teppich kehrten, während die Egoisten das Problem lösen wollen, indem sie Unterschiede betonen. Die Lösung liegt in Richtung Egoismus. Die Egoisten wollen endlich Schluss machen mit ständiger Rücksicht, sie wollen ein Muster aufbrechen, und daher liegt die Lösung bei den Egoisten. Das bedeutet nicht, dass nun jede Rücksicht beendet wird, aber es bedeutet auf jeden Fall, dass jetzt mehr Egoismus nötig ist.“ Interessant, nicht?

Mein Fazit

Ich widerstehe der Versuchung, noch tiefer in das Buch einzusteigen und ermutige dich zum selber lesen! Michael Mary schreibt frisch, klar, selbstbewusst, kritisch, realistisch und warmherzig.

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Foto: Pixabay

 

 

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