Das Vorwort des Dalai Lama zu dem Buch „Feindbilder – Psychologie der Dämonisierung“ von Haim Omer/Nahi Alon/Arist von Schlippe (4. Auflage 2016) vom Februar 2005 finde ich so grundlegend, dass ich es hier fast in seiner kompletten Länge zitieren möchte:
„Ich glaube, dass glücklich zu sein der Zweck des Lebens ist. Vom Augenblick der Geburt an verlangt jedes menschliche Wesen nach Glücklichsein und nicht nach Leiden. Deshalb ist es wichtig herauszufinden, was uns den höchsten Grad an Glücklichsein beschert. (…)
Wir übersehen die Tatsache, dass alle menschlichen Wesen im Grunde gleich sind, woher immer wir stammen. Physisch mag es einige kleine Unterschiede geben, in der Form unserer Nasen, der Farbe unseres Haars und dergleichen, aber sie sind unwesentlich. Im Grunde sind wir dieselben. Wir alle haben das gleiche Potential, sowohl positive wie negative Erfahrungen zu machen. Mehr noch, wir haben das gleiche Potential, unsere Einstellungen zu verändern. Und das ist, glaube ich, wichtig: zu erkennen, dass wir uns alle in bessere, glücklichere Menschen verwandeln können. Nicht nur das, wir sollten auch Kraft aus dem Gedanken schöpfen, dass, wenn wir es können, auch unsere Rivalen, Gegner und Feinde sich ändern können.
Nach meiner eigenen, begrenzten Erfahrung habe ich entdeckt, dass der höchste Grad seelischen Friedens aus der Entwicklung von Liebe und Mitgefühl erwächst. Je mehr wir uns um das Glück anderer kümmern, desto größer wird unser eigenes Wohlbefinden. Wenn man ein nahes, warmherziges Gefühl für andere pflegt, wird man sich automatisch erleichtert fühlen. Das trägt dazu bei, Furcht und Unsicherheit zu beseitigen, und gibt uns die Stärke, mit jedweder Widrigkeit, die uns begegnet, fertig zu werden. Das ist der Grund, warum ich glaube, dies sei die wichtigste Quelle des Erfolgs im Leben.
In Tibet haben wir eine Redensart: „Viele Krankheiten können durch die eine Medizin kuriert werden: Liebe und Mitgefühl.“ Diese Eigenschaften sind die wichtigste Quelle menschlichen Glücks, und unser Bedürfnis für sie liegt im tiefsten Kern unseres Seins. Unglücklicherweise sind Liebe und Mitgefühl schon zu lange aus zu vielen Sphären gesellschaftlicher Interaktion herausgenommen worden. Sie sind auf die Familie und das Zuhause beschränkt, und ihre Ausübung im öffentlichen Leben wird als unpraktisch angesehen, sogar als naiv. Das ist tragisch. Meiner Ansicht nach ist das Ausüben von Mitgefühl keinesfalls ein Symptom von unrealistischem Idealismus, sondern die wirksamste Art, die besten Interessen anderer und von einem selbst zu verfolgen.
Was wir heute brauchen, (…), ist eine Erziehung der Einzelnen und der Nationen, von kleinen Kindern bis zu politischen Führern, um die Idee einzupflanzen, dass Gewalt und Dämonisierung unserer Opponenten kontraproduktiv sind, dass sie keine realistische Möglichkeiten sind, unsere Probleme zu lösen. Anstatt anderen Schuld zuzuweisen, ist es notwendig, dass wir selbst Verantwortung übernehmen und uns dafür engagieren, Lösungen im Geiste des Mitfühlens und der Demut zu suchen. Wahrer Friede und wahre Versöhnung, ob in Bezug auf uns selbst oder in Bezug auf andere, kommen durch ein respektvolles und gewaltloses Angehen unserer Probleme zustande.“
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