Warum sind Frauen depressiver als Männer?

Frauen sind doppelt so häufig von Depressionen betroffen wie Männer. Weltweit. Aber warum ist das so – um alles in der Welt?

Depressionen im Allgemeinen und im Besonderen

Nach den Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird die Depression bereits im nächsten Jahr die zweithäufigste Erkrankung nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen sein. Grundsätzlich gilt: „Keine zwei Menschen haben genau die gleichen Depressionen. Ihre Symptome können sich ähneln, doch ist jedes Krankheitsbild einzigartig und fast unvorstellbar komplex.“1 Dennoch leiden, teils aus biochemischen, teils aus umweltbedingten Gründen, weltweit doppelt so viele Frauen wie Männer unter Depressionen.

Ursula Nuber2 schreibt: „In Deutschland sind derzeit 5 Millionen Frauen von dieser Diagnose betroffen – und 2,8 Millionen Männer.“ Am häufigsten erkranken Frauen zwischen 30 und 50 Jahren, also im mittleren Lebensalter. Der amerikanische Autor, Journalist, politische Berater und selbst betroffene Andrew Solomon schreibt in seinem düsteren Wälzer über die Depression: „Die Abweichung besteht allerdings noch nicht bei Kindern, sondern tritt erst ab der Pubertät auf. Frauen entwickeln diverse geschlechtsspezifische Formen von depressiven Zuständen – zum Beispiel im Wochenbett, vor der Menstruation und in der Menopause – und daneben alle, die auch Männer befallen. Schwankungen des Östrogen- oder Progesteronspiegels können sich sofort auf die Stimmung auswirken, (…), doch ist das keine regelmäßige, kalkulierbare Folge. (…). Eindrucksvoller als das beliebte, aber vage Hormonspiel ist der Umstand, dass Männer Serotonin um etwa fünfzig Prozent schneller bilden als Frauen, weshalb sie widerstandsfähiger sein könnten.“1

Feministische Depressionsforschung

Aus den obigen Zahlen kann man NICHT schlussfolgern, dass Frauen besonders anfällig für psychische Störungen wären. Diese sind nämlich in der Gesamtbevölkerung annähernd gleich verteilt. Nuber: „Bipolare Depressionen, Schizophrenie und Psychosen treffen beide Geschlechter gleichermaßen. Deutliche Geschlechtsunterschiede finden sich nur bei der sogenannten unipolaren Depression.“

Die feministische Depressionsforschung bevorzugt oft soziologische Hypothesen. Das Biologische allein kann die hohe Depressionsquote bei Frauen nicht erschöpfend erklären. Auch Nuber schreibt: „Es gibt keine überzeugenden Belege für den Zusammenhang zwischen hormonellen Veränderungen in der Pubertät, Schwangerschaft, in den Tagen vor den Tagen, in den Wechseljahren und der Entstehung einer depressiven Erkrankung. Schwankungen im weiblichen Hormonhaushalt sind normal und können zu Befindlichkeitsstörungen führen. Diese sind aber meist kurzfristiger Natur und wachsen sich nur dann zu einer handfesten Depression aus, wenn andere Faktoren hinzukommen. Die sozialen Lebensumstände einer Frau, ihre Beziehungserfahrungen und ihre Alltagsbelastungen dürfen nicht außer Acht gelassen werden.“

Auch das genetische Risiko erklärt nur einen Teil der Depressionsentstehung. Zwar ist das Erkrankungsrisiko wesentlich größer, wenn bereits ein Elternteil oder ein Geschwister erkrankt ist. Dennoch erklären genetische Faktoren nur ein Drittel der Erkrankungen. Umweltfaktoren spielen immer eine wichtige Rolle. Stresserfahrungen aktivieren bestimmte Gene, erst dadurch wächst das Risiko der Erkrankung und für Rückfälle sowie eine Chronifizierung.

Auch angeblich typische weibliche Persönlichkeitseigenschaften wie Dünnhäutigkeit, ein geringes Selbstwertgefühl, sich sorgen und grübeln und Dinge schnell persönlich nehmen werden als Ursachenvermutung herangezogen.

Offenbar existieren biologische Spezifika der Depressionen von Frauen und Männern, doch gibt es ebenso offensichtliche gesellschaftliche Rollen- und Statusunterschiede zwischen den Geschlechtern in einer angeblich gleichberechtigten Gesellschaft. „Wenn Frauen häufiger depressiv werden, so liegt das zum Teil an ihrer Benachteiligung und Entmündigung. Auffallenderweise häufen sich Wochenbettdepressionen bei starkem Stress und sind da viel seltener, wo sich der Mann mit für Erziehung und Pflege der Kinder verantwortlich fühlt.“1 Außerdem sind Frauen „häufiger Angriffen ausgesetzt, stärker durch Armut, Missbrauch, Demütigung und altersbedingten Entzug sozialer Anerkennung bedroht, in der Regel auch weniger gebildet und in höherem Maße dem Ehepartner ausgeliefert als Männer.“1 Solomon folgert daraus: „Da die hohen Depressionsquoten der Frauen keine derzeit lokalisierbare genetische Veranlagung widerspiegeln, können wir mit einiger Sicherheit annehmen, dass sie sich durch mehr Gleichberechtigung deutlich senken ließen.“

Warum Frauen depressiv werden

Die Psychologin, Beraterin und Paartherapeutin Ursula Nuber prangert in ihrem Buch über die weibliche Depression2 an, dass sich an dem großen Depressionsrisiko des weibliche Geschlechts seit Jahrzehnten nichts verändert hat und dies offensichtlich als „unvermeidbarer Fakt“ hingenommen wird. „Die Lebensbedingungen in der modernen, globalisierten Welt wurden als depressionsfördernd ausgemacht, die biochemischen Veränderungen im Gehirn von depressiv Erkrankten sind bekannt, und auch frühe traumatische Kindheitserfahrungen werden ausführlich als Auslöser der Depression diskutiert. Und natürlich liegen Antworten zur Frage vor, warum Frauen häufiger als Männer erkranken: Frauen reden bereitwilliger mit Ärzten über ihre emotionalen Probleme und werden deshalb häufiger als depressiv diagnostiziert.“ Interessant, nicht?

Nuber versucht, in ihrem Buch eine spezifische, auf das weibliche Leben und Erleben zugeschnittene Betrachtungsweise einzunehmen, die dem Phänomen der weiblichen Depression gerecht werden soll. Grundsätzlich geht sie davon aus, dass zu eventuell vorhandenen Verletzlichkeiten (traumatische Kindheitserfahrungen, hormonelle Schwankungen) besondere Lebensumstände (Stresserfahrungen oder frustrierende Erfahrungen in Beziehungen) hinzukommen müssen, damit sich eine Depression entwickelt. Mit anderen Worten: „Eine glückliche Frau kann unter Hormonschwankungen leiden, ohne depressiv zu werden. Eine unglückliche Frau aber kann durch verrückt spielende Hormone ihre letzte Kraft verlieren und deshalb durch den Verlust von Beziehungen oder den Verlust von Hoffnungen depressiv werden.“

Zwei Schlüsselfaktoren

Nubers Buch geht der Frage nach, welche Faktoren tatsächlich für die hohe Erkrankungsrate der Frauen verantwortlich sind. Dabei konzentriert sie sich auf zwei Schwerpunkte:

  1. Die weibliche Depression ist eine Stresserkrankung: Frauen sind spezifischen Stressoren ausgesetzt, die in einem Männerleben nicht so häufig oder gar nicht vorkommen.“ Nuber betont, dass Depressionen alle chronisch belasteten Menschen treffen können, Frauen jedoch unter sehr viel mehr und einem ganz besonderem Druck stünden und deshalb extrem gefährdet seien. In diesem Zusammenhang führt sie acht Stressfaktoren auf: zeitliche Überbelastung, zu wenig Autonomie und massive Partnerschaftsprobleme in der Ehe, Mutterschaft, alleinerziehend sein, Beziehungsarbeit, Pflege von bedürftigen Familienmitgliedern, Gewalt in Partnerschaften und der Kampf mit dem Schönheitsideal der Gesellschaft.

  2. Die weibliche Depression ist eine Beziehungsstörung: „Die Erfahrungen, die Frauen in und mit Beziehungen machen, können eine Depression verursachen. (…) Den Frauen, die depressiv erkranken, fehlen fast immer stützende, zugewandte, nährende und wärmende Beziehungen zu anderen wichtigen Menschen in ihrem Leben.“ Die erkrankten Frauen sprechen von einer unerfüllten Sehnsucht nach gegenseitiger Einfühlung und Ermutigung in einer liebevollen und unterstützenden Beziehung.

Außerdem haben sie oft vor Ausbruch der Erkrankung einen Verlust erlitten. Dabei kann es sich um einen Verlust durch Tod oder Trennung handeln. Oder auch um einen Verlust im übertragenen Sinn: Wenn es Frauen nicht gelingt, tragfähige, auf Gegenseitigkeit beruhende Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen und aufrechtzuerhalten, dann empfinden sie das als tief greifenden Verlust. Sie spüren, dass echter Kontakt, Intimität und Nähe in ihrem Leben fehlen und geben sich die Schuld dafür. Frauen übernehmen die Verantwortung für scheiternde Beziehungen. Sie glauben, dass sie diese Beziehungsprobleme nicht hätten, wenn sie besser, attraktiver, klüger und perfekter wären. Das Misslingen von Beziehungen stimuliert nur noch mehr ihre Bemühungen. Die Frauen erhöhen ihren Einsatz. Sie sind noch netter, rücksichtsvoller und hilfsbereiter. Und sie vernachlässigen noch bereitwilliger ihre eigenen Bedürfnisse, Standpunkte, Ziele. Vor allem aber unterdrücken sie negative Impulse. Wut und Ärger, Aggression und Enttäuschung werden nicht gezeigt, denn die harmonische Beziehung zu anderen Menschen ist wichtiger als die eigene Person. Eigene Bedürfnisse und Wünsche werden gehemmt, um die anderen für sich zu gewinnen. Der Preis dafür ist hoch: Der Kontakt zu sich selbst geht verloren.

Dazu kommt dann noch ein anderes Phänomen: „Häufig wird Frauen ihre starke Orientierung auf andere Menschen als Abhängigkeit, als Unselbständigkeit und Unreife ausgelegt. Diese Vorwürfe machen sie meist mut- und hilflos. Die Wahrnehmung depressiver Frauen ist: Wären sie selbständiger und unabhängiger, dann wären sie nicht depressiv.“

Die Frauen-Depressions-Formel

Nuber stellt die These auf, dass in unserer Gesellschaft Qualitäten wie Autonomie zu Recht als wichtig angesehen werden. Auf der andern Seite wird die große Bedeutung der Beziehungsfähigkeit dabei – zu Unrecht – übersehen. Das Bedürfnis nach „in Beziehung sein“ sollte ebenso positiv bewertet und selbstbewusst nach außen vertreten werden wie das Bedürfnis nach Eigenständigkeit.

Die Psychologin sieht beide Punkte, den spezifischen Stress der Frauen und ihre unbefriedigenden Beziehungserfahrungen, als Schlüsselfaktoren zur plausiblen Erklärung der hohen Erkrankungsrate des weiblichen Geschlechts. Sie schreibt, dass die Depression der Frauen in vielen Fällen „das Ergebnis überzogener Erwartungen an sich selbst, gepaart mit viel zu großer Nachsicht für andere“ ist und stellt eine Gleichung des zugrundeliegenden, depressionsauslösenden Musters auf:

Chronischer Stress + Beziehungsenttäuschung = Depression

Rumpelstilzchen im echten Leben

Nach einem hochinteressanten Exkurs über die Identitätsentwicklung von Mädchen und Jungen erläutert Nuber am Märchen vom erpresserischen Rumpelstilzchen ebenso anschaulich wie plastisch mögliche Antworten auf die Frage, warum doppelt so viele Frauen an Depressionen erkranken wie Männer. Dabei sieht sie sechs Parallelen zwischen den Erfahrungen des Mädchens im Märchen und den Erfahrungen realer Frauen:

  1. Wie im Märchen versuchen auch reale Frauen oft, in ihrem Alltag Stroh zu Gold zu spinnen. Das heißt, sie nehmen unmögliche Aufträge und Herausforderungen an und verlangen von sich selbst Unmögliches, ohne Rücksicht auf ihre eigene Zeit, Kraft und Lust zu nehmen.

  2. Im Märchen wird die Müllerstochter von ihrem Vater in eine aussichtslose Situation manövriert. Auch im wahren Leben wehren sich moderne Frauen oft nicht gegen Zumutungen. Vielmehr passen sie sich häufig den Forderungen anderer an, strengen sich fürchterlich an, verzichten auf für sie wertvolle Dinge und verlieren dadurch zunehmend ihr Gespür für ihre eigenen Bedürfnisse.

  3. Die Müllerstochter hat im Märchen keinen Ansprechpartner in ihrer Not. Außer dem Männchen sieht niemand ihre Tränen. Nicht selten erleben Frauen in ihrem Alltag vergleichbare Situationen. Statt in Erschöpfung und Überlastung Liebe, Unterstützung und eine Schulter zum Anlehnen zu bekommen, werden sie in ihrem Bedürfnis nach Nähe enttäuscht. Sie ziehen sich zurück und unterdrücken ihre Gefühle, um weiter zu funktionieren. Dabei merken sie lange Zeit nicht, wie kritisch es um sie steht.

  4. Die Hochzeit der Müllerstochter mit dem König ist kein wirkliches Happy End. Statt ein Leben in Ruhe und Geborgenheit zu führen, wird sie erneut bedroht und erpresst. Auch im echten Leben wollen Frauen oft viel zu lange nicht wahrhaben, wie brüchig ihre Gesundheit ist, seelisch und körperlich. Oftmals bewältigen sie ihren Alltag mit allerletzter Kraft und erklären sich ihre Erschöpfung und ihr Unglücklichsein mit Schlafmangel, zu viel Arbeit und zu wenig Freizeit. Sie verschließen ihre Augen vor den immer deutlicher werdenden Warnzeichen und bekämpfen ihre Symptome mit allerlei Mittelchen.

  5. Als das Männchen bei der Königin erscheint und ihr Kind fordert, versucht sie, sich mit allen Reichtümern freizukaufen. Auch reale Frauen bieten oft alles, was sie haben. Sie verdoppeln ihren Einsatz. Sie versuchen, noch fleißiger, liebenswürdiger oder perfekter zu sein und wollen ihre Situation noch immer nicht wahrhaben.

  6. Als sich das Männchen nicht abweisen lässt, reagiert die Königin so verzweifelt, dass sie eine Gnadenfrist bekommt. Auch depressiv erkrankte Frauen schleppen sich durch weiter durch den Tag, obwohl sie schon beim Aufwachen denken: „Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr.“ Das Bedürfnis nach Ruhe ist immer noch im Wettstreit mit ihrem großen Willen, alles zu bewältigen. So kommt es schließlich zum totalen Zusammenbruch. Viele Frauen ahnen vorher die drohende Depression, wollen sie aber nicht wahrhaben. Im Märchen gelingt es der Königin, den Bann des Männchens zu brechen, indem sie seinen Namen ausfindig macht. Auch im wahren Leben ist es notwendig, dass Frauen den richtigen Namen ihres Leidens herausfinden: nicht Migräne, Überarbeitung oder Schlafmangel, sondern: DEPRESSION. „Sie müssen sich der Wahrheit stellen und erkennen, woher ihre Stimmungsschwankungen, ihre Ängste, ihre Verzweiflung wirklich kommen: Weil sie zu viele unmögliche Aufträge angenommen haben, weil sie zu bereitwillig die Bedürfnisse und Wünsche anderer erfüllen wollen, weil sie ihre eigenen Gefühle zum Schweigen gebracht haben, weil sie in unglücklichen Beziehungen leben, sind sie nun in dieser gefährlichen Situation. Zu große Selbstverleugnung und tiefe Enttäuschungen haben das Rumpelstilzchen auf den Plan gerufen. Erst wenn Frauen den wahren Namen des Männchens herausfinden und sich der Wahrheit stellen, können sie sich selbst wiederfinden.“

Schlusskapitel

Dem vorletzten Kapitel von Nubers Buch „5 Wege aus der Depression“ widme ich demnächst einen eigenen Blog. Das würde hier zu kurz kommen. Einige wichtige Punkte werden dabei Empowerment und – paradoxerweise – Selbstkomplexität darstellen.

Meine Meinung

Die erste These erklärt sich weder von selbst noch leuchten mir Nubers Ausführungen wirklich ein. Die zweite These jedoch finde ich eine – nicht nur theoretische – Auseinandersetzung wert! Für spannende Diskussionen und Bitten um eine Wegbegleitung bin ich wie immer offen!

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1Andrew Solomon: Saturns Schatten, Die dunklen Welten der Depression. Frankfurt am Main 2006

2Ursula Nuber: Wer bin ich ohne dich? Warum Frauen depressiv werden und wie sie zu sich selbst finden. Frankfurt am Main/New York 2012

Fotos: Pixabay

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