Was bedeutet Spiritualität überhaupt? Wahrscheinlich bekommst du so viele Antworten, wie du Personen aus verschiedenen Traditionen fragst. Für einige ist Spiritualität an eine bestimmte Religiosität oder Ritual gebunden, für andere nicht.
Allerdings verweisen alle Auffassungen letzten Endes auf etwas, das tiefer, höher, größer und bedeutungsvoller als das alltägliche Leben erscheint.
Das Wort Spiritualität kommt vom lateinischen „spiritus“ (Geist, Hauch) und „meint im weitesten Sinn Geistigkeit, im engeren Sinn eine auf Geistliches ausgerichtete Haltung; Spiritualität im spezifisch religiösen Sinn besteht für die Vorstellung einer geistigen Verbindung zum Göttlichen, zum Jenseits und zur Unendlichkeit. (…) Mit Spiritualität kann sich also unabhängig von jeglicher Konfession und Weltanschauung eine Lebensauffassung und Lebensgestaltung verbinden, die nach einem höheren Sinn sucht, die Verbundenheit mit anderen Lebewesen und mit der Natur sieht und die das Bemühen beinhaltet, Verantwortung zu übernehmen und die Einsichten konkret zu verwirklichen – im Sinne einer individuell gelebten Spiritualität.“1
Drei Gruppen
Deine Einstellung zur Spiritualität kann sich – grob betrachtet – innerhalb von drei Gruppen widerspiegeln:
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Vielleicht ist dir Spiritualität völlig egal. Das ist eher unwahrscheinlich, denn dann würdest du diesen Blog vermutlich gar nicht lesen.
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Oder du findest Spiritualität für dich halt so mehr oder weniger relevant.
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Oder dir ist Spiritualität so wichtig, dass sie einen wesentlichen Teil deines Lebens ausmacht und/oder du nach Erleuchtung strebst.
Spirituelle Verbundenheit
Bodian2 untergliedert die spirituelle Verbundenheit in sechs Kriterien:
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Glaube
Manche Menschen glauben an eine geistige Kraft im Sinne einer größeren Wirklichkeit, die der gewöhnlichen Welt von Menschen und Dingen zugrunde liegt, und suchen Möglichkeiten, sich ihr zu nähern. Da denke ich zum Beispiel an Gregg Braden und sein Buch „Im Einklang mit der göttlichen Matrix3“, in dem er Spiritualität und Wissenschaft verknüpft und von einer alles verbindenden Essenz ausgeht.
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Erwachen
Einige Menschen sind der Auffassung, einen Einblick in die spirituelle Dimension bekommen zu haben und glauben nicht nur, sondern gehen davon aus, zu wissen. Ich denke da zum Beispiel an Eckhart Tolles4 Bericht über den Moment, der – mitten in der Nacht und in tiefer Depression – sein ganzes Leben veränderte. Solche Erfahrungen können aber auch ignoriert werden oder verblassen, wenn sie nicht durch regelmäßige spirituelle Übungen gespeist werden.
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Kontakt
Es gibt Menschen, die durch das Erwachen so verändert sind, dass sie das Leben und die Welt auf eine ganz neue Weise betrachten. Sie sind von einer neuen Bedeutung und Tiefe durchdrungen und fühlen sich auch in ihrem profanen Leben mit der spirituellen Dimension in Kontakt.
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Durchdrungen
Diese Menschen spüren nicht nur die Gegenwart der geistigen Kraft in jedem Menschen und Ding, sondern sind davon überzeugt, dass diese Kraft auch ihr komplettes Wesen durchdringt; dass sie und die spirituelle Kraft im Grunde ein und dasselbe sind. Sie erfahren diese Kraft als größere Wirklichkeit oder Substanz ihres Lebens, die sie mit allem verbindet.
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Einheit
Wenn das Gefühl des Getrenntseins abfällt und sich eine Person mit der größeren Wirklichkeit verbunden fühlt, erreicht sie den Zustand der Einheit, der Unio Mystica, wie sie von Mystikern und Zen-Meistern beschrieben wird. Bevor sie diese Erkenntnis in alle Bereiche ihres Lebens integriert hat, kann sie immer wieder in diesen Zustand hineingehen und aus ihm herauskommen, ohne voll darin verwurzelt zu sein.
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Vollkommene Einheit
Am Punkt der vollkommenen Einheit ist eine Person davon überzeugt, dass der gewöhnliche Alltag, die heilige/geistige/spirituelle Dimension und ihre eigene wesentliche Natur ein und dasselbe sind. Sie trifft das Göttliche in jedem und allem ohne eine Spur der Getrenntheit.
Der Zweck spiritueller Praxis
Nach der Lehre der großen spirituellen Traditionen wie dem Buddhismus leiden wir Menschen, weil wir ein Getrenntsein erfahren. Wir sehen und empfinden uns als Einzelne isoliert und von Gott/der Quelle/unserer wesentlichen Natur abgeschlossen. Das ist aus Sicht dieser Traditionen unser Hauptproblem. Während der Meditation überbrücken wir diese Getrenntheit und verbinden uns mit unserem Atem, unserem Körper, unseren Sinnen und unserem Herzen, mit dem gegenwärtigen Augenblick und letztlich mit einer größeren Wirklichkeit. Das höchste Ziel der spirituellen Praxis besteht darin, die offensichtliche Getrenntheit vollständig zu überwinden und vollkommen eins mit der geistigen Kraft zu werden.
Was die Trennung aufrecht erhält, wird in einigen Traditionen als Ego oder Selbst bezeichnet, andere sprechen von Selbstbild oder Selbstverhaftung. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Glaubenssätze und Geschichten, die inneren Turbulenzen und die selbstzentrierten Muster, die dich davon abhalten, die Dinge klar zu sehen. Natürlich ist das alles tief verwurzelt und es kann eine lange Zeit oder sogar ein ganzes Leben hingebungsvoller meditativer Praxis nötig sein, um das zu überwinden.
Fünf Körper
Auf einer tieferen Ebene des Verständnisses sind wir nie wirklich von dieser größeren Kraft getrennt, sondern denken und fühlen das nur so. Darin liegt des Rätsels Lösung. Bodian zitiert den großen indischen Weisen Ramana Maharshi: „Das Einzige, was Sie vom Selbst trennt, ist der Glaube, dass Sie getrennt sind.“ Wenn du deine alten Muster entwirrst, löst du Schritt für Schritt das begrenzte Selbst auf und erkennst deine Verbundenheit mit der größeren Wirklichkeit. Du kannst den spirituellen Weg also als eine Erweiterung deiner Identität verstehen, bis du dich schließlich mit der geistigen Kraft erkennen kannst.
Die jahrtausendealte indische Lehre benutzt das Modell der fünf Körper, die zunehmend feineren Ebenen der Zugehörigkeit entsprechen. Sie beginnen mit dem physischen Körper und enden mit der Identifikation mit dem Grund des Seins oder der größeren Wirklichkeit. Bodian stellt ein ähnliches Modell vor:
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Physischer Körper
Hier befinden wir uns im Bereich des physischen Körpers mit all seinen Bedürfnissen wie Essen, Trinken, Schlafen und Sex.
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Persona
In der Interaktion mit anderen entwickeln wir unsere Persönlichkeit und unser Selbstbild.
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Reifes Ego
Durch die Erforschung unseres inneren Lebens, unserer tiefen Gefühle, Werte und Visionen können wir im Laufe der Zeit ein reifes Ego entwickeln, also ein abgerundetes Empfinden unserer Identität. Wir wissen, wer wir sind, was wir wollen und was wir für andere tun können, sind geerdet, selbstsicher und verwirklichen uns selbst. In der Humanistischen Psychologie ist dies der Höhepunkt der menschlichen Entwicklung.
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Energiekörper
Die spirituellen Traditionen machen da weiter, wo die westliche Psychologie endet. Jenseits vom physischen Körper befindet sich die Aura als Energiekörper, der den physischen Körper umgibt. Die Aura dehnt sich – abhängig von der Stimmung – aus oder zieht sich zusammen.
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Transpersonale Dimension
Die transpersonale Dimension erfasst den Bereich der Erfahrungen wie Hellsehen und anderer Formen außersinnlicher Wahrnehmung über Entzücken und Seligkeit und Visionen. Bodian schreibt: „Wenn Sie Ihre Identität ausweiten, um diese feineren Ebenen (…) einzuschließen, wissen Sie ohne Zweifel, dass Sie weit mehr sind, als Sie früher zu sein glaubten, und Sie fangen an, auch auf eine höhere Quelle der Weisheit und des Mitgefühls zuzugreifen.“
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Einblicke ins Sein
Die Zen-Meister beschreiben eine direkte Erfahrung des Seins, Kensho (deine wahre Natur sehen). Diese Erfahrung des Seins mit seiner ganzen Vollkommenheit zeigt, dass nie eine Trennung da war. Wahrscheinlich brauchen wir eine ganze Menge Kenshos, um ohne Zweifel zu begreifen, wer wir sind und dann nicht mehr zu unserer begrenzten Identifikation zurückzugehen.
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Grund des Seins
Diesen Punkt des Eins-Seins mit dem Grund des Seins ohne Getrenntheit erreichen nur die großen Mystiker und Weisen. Dazu passt das Sanskrit-Mantra SO HAM – Ich bin. Es geht auch weiterhin um Essen, Trinken, Schlafen und Zähne putzen im Leben dieser Mystiker und Weisen. Sie sind sich dabei aber im Klaren, wer sie sind und sie strahlen auf dieser Grundlage Weisheit und Mitgefühl aus.
Meine Meinung
Was ich von all dem halte? Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich meine Antwort hier knapp halte. Wer sich intensiver mit Bereichen wie Achtsamkeit und Meditation beschäftigt, setzt sich früher oder später mit diesen Inhalten auseinander. Ich persönlich bin da ambivalent. Ich bewege mich mein ganzes Leben in westlich urbanen Kontexten und einiges in der spirituellen Szene erscheint mir echt abgefahren und mir kommen Wörter wie „Hokuspokus“ usw. in den Sinn. Auf der anderen Seite weiß ich von mir selbst und anderen, dass es viel mehr gibt zwischen Himmel und Erde als das, was wir in unserem wissenschaftsgläubigen Westen für wahr und möglich halten. Und ich finde es spannend, zumindest die eigenen geistigen Grenzen ab und zu mal bis über die Schwindelgrenze zu erweitern und mal da hinzugehen, wo die Luft dünn wird. Und du?
Gurus
Zum Schluss schneide ich noch kurz ein Thema an, auf das ich – als Meditationskursleiterin – oft angesprochen werde: Gurus. Was ich denn davon halte und ob ich gar selbst einer sei? Viele haben dabei im Grunde Bilder von alten, bärtigen Männern im Lotussitz mit nacktem Oberkörper, umgeben von einer großen Anhänger-Schar mit entrückten Gesichtern, vor der Brust gefalteten Händen und unentwegt „Namasté!“ rufend vor Augen.
Was ist überhaupt ein Guru?
Ein Guru ist ein spiritueller Lehrer, der aufgrund seiner langen und tiefen Erfahrung anderen dabei hilft, ihre Meditationspraxis zu verbessern und mit den dabei aufkommenden Fragen zurechtzukommen und darüber in einen konstruktiven Austausch zu gehen. Wir reden hier also eher sachlich von einem Mentor und nicht von einem allmählich ins Drogendelirium abrutschenden ehemaligen Charismatiker mit vielen großen Autos…
In der hinduistischen Tradition ist Guru ein religiöser Titel für einen spirituellen Lehrer. Der Begriff kommt aus dem Sanskrit und bedeutet „schwer, gewichtig“ oder schlicht „Lehrer“. Die Rolle des Guru beruht auf dem philosophischen Verständnis der Weitergabe von Wissen im Hinduismus, bei der ein Lehrer unentbehrlich ist. Er unterstützt als Fortgeschrittener und Geprüfter auf dem spirituellen Weg die Schüler auf ihrer Suche nach Wissen und Erkenntnis auf dem Weg zur Erleuchtung und Erlösung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten. In den alten Schriften wird ein Guru als Vertreiber der geistigen Dunkelheit oder zumindest teilweise als Verkörperung einer Gottheit angesehen.
Guru-Checkliste
Bei Bodian findet sich eine Checkliste für einen Guru mit Qualität:
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bescheiden, gewöhnlich, realistisch und nicht arrogant und aufgeblasen – putzt im Retreat auch die Klos und schnibbelt das Gemüse
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ehrlich, geradlinig, klar und nicht ausweichend oder abwehrend
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ermutigt unabhängiges Denken und einen offenen Diskurs statt blinden Gehorsam einer bestimmten Ideologie gegenüber zu erwarten
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kümmert sich um die spirituelle Entwicklung der Schülerinnen und Schüler statt um Ruhm, Reichtum, Macht und Größe seiner Organisation
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lebt die eigene Lehre statt sich selbst davon auszunehmen
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verkörpert die höchsten spirituellen Qualitäten wie z.B. Freundlichkeit, Geduld, Gleichmut, Liebe und Mitgefühl.
Und ich? Nein! Ich bin kein Guru. Definitiv nicht. Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut, mit Kopf und Herz und viel Bodenhaftung, mit einer ganzen Menge Lebenserfahrung und Menschenkenntnis, stark und schwach, hart und weich, authentisch, bunt, ehrlich, facettenreich und fehlbar. Nicht mehr und nicht weniger. Und ich freue mich auf Austausch und gemeinsame Praxis! 🙂
Lust auf ein Gruppe vielleicht?
Meldet euch und ich organisiere gerne etwas!
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1Ulrike Hensel: Mit viel Feingefühl. Paderborn 2013
2Stephan Bodian: So leicht geht Meditation für Dummies, München 2015
3Gregg Braden: Im Einklang mit der göttlichen Matrix, Burgrain 2012
4Eckhart Tolle: Jetzt! Ein Leitfaden zum spirituellen Erwachen, Bielefeld 2000
Fotos: Pixabay