Der angekettete Elefant

Weißt du eigentlich, dass die meisten Zirkuselefanten am Fuß angekettet sind? Und zwar erstaunlicherweise nur an einem unverhältnismäßig kleinen Pflock, einem winzigen Stück Holz, das nur ein paar Zentimeter tief in der Erde steckt? Und weißt du, warum das bei einem so riesigen und starken Tier funktioniert?

Okay, die Kette ist mächtig und schwer, aber ein Elefant hätte die Kraft, einen kompletten Baum samt Wurzel auszureißen. Er könnte sich daher mit Leichtigkeit von einem solchen Stöckchen befreien und fliehen.

Was also hält ihn davon ab?

Der Zirkuselefant flieht nicht, weil er schon seit frühester Kindheit an einem solchen Pflock angekettet ist. Als Elefantenbaby hat er sicher daran gezogen und gezerrt, geschubst und alles Mögliche probiert, um sich zu befreien. Trotz aller Anstrengung konnte er sich aber nicht losreißen, da der Stock zu tief in der Erde steckte. Sicher ist er viele Male über seinen vergeblichen Versuchen eingeschlafen und hat es immer wieder versucht, immer und immer wieder, jeden Tag aufs Neue.

Jorge Bucay* schreibt dazu: „Bis eines Tages, eines für seine Zukunft verhängnisvollen Tages, das Tier seine Ohnmacht akzeptiert und sich in sein Schicksal fügt. Dieser riesige, mächtige Elefant, den wir aus dem Zirkus kennen, flieht nicht, weil der Ärmste glaubt, dass er es nicht kann. Allzu tief hat sich die Erinnerung daran, wie ohnmächtig er sich kurz nach seiner Geburt gefühlt hat, in sein Gedächtnis eingebrannt. Und das Schlimme dabei ist, dass er diese Erinnerung nie ernsthaft hinterfragt hat. Nie wieder hat er versucht, seine Kraft auf die Probe zu stellen.“

Übertragen auf uns Menschen schreibt Bucay: „Uns allen geht es ein bisschen so wie diesem Zirkuselefanten: Wir bewegen uns in der Welt, als wären wir an Hunderte von Pflöcken gekettet. Wir glauben, einen ganzen Haufen Dinge nicht zu können, bloß weil wir sie ein einziges Mal, vor sehr langer Zeit, damals, als wir noch klein waren, ausprobiert haben und gescheitert sind. Wir haben uns genauso verhalten wie der Elefant, und auch in unser Gedächtnis hat sich die Botschaft eingebrannt: Ich kann das nicht, und ich werde es niemals können. Mit dieser Botschaft, dass wir machtlos sind, sind wir groß geworden, und seitdem haben wir niemals mehr versucht, uns von unserem Pflock loszureißen. Manchmal, wenn wir die Fußfesseln wieder spüren und mit den Ketten klirren, gerät uns der Pflock in den Blick, und wir denken: Ich kann nicht, und werde es niemals können.“

Hast du das auch erlebt?

Ist dein Leben auch von der Erinnerung an eine Version von dir geprägt, die es heute gar nicht mehr gibt, die damals aber klein und ohnmächtig war?

Jorge Bucay ermutigt: „Der einzige Weg herauszufinden, ob du etwas kannst oder nicht, ist, es auszuprobieren, und zwar mit vollem Einsatz. Aus ganzem Herzen!“

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*Jorge Bucay: Komm, ich erzähl dir eine Geschichte. Frankfurt a. M. 17. Auflage 2016

Foto: Pixabay

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