Heute stelle ich dir ein schönes Buch vor, mit dem ich mich sowohl persönlich als auch im Rahmen meines Arbeitsbereiches Psychotherapie/Beratung beschäftigt habe.
Ulrike Hensel:
Mit viel Feingefühl. Hochsensibilität verstehen und wertschätzen.
Einblicke in ein gar nicht so seltenes Phänomen.
Paderborn 2013
Die Autorin
Ulrike Hensel studierte Angewandte Sprachwissenschaft, arbeitet selbstständig als Textcoach und Coach für Hochsensible. Selbst hochsensibel, ist es ihr ein tiefes Anliegen, Hochsensible in ihrem Selbstwertgefühl zu stärken.
Der Klappentext
„Hochsensibilität ist ein Thema, das alle angeht: 15 – 20 Prozent der Menschen zählen zu der Gruppe der Hochsensiblen; die anderen begegnen ihnen Tag für Tag.
Dieses Buch vermittelt Wissen, ermöglicht Erkenntnisgewinn – und gibt auch Rat. Sie finden heraus: Sind Sie hochsensibel? Ist Ihr Gegenüber hochsensibel? Was genau macht Hochsensibilität aus? Was bringt sie alles mit sich? Ulrike Hensel befasst sich mit den Auswirkungen der Hochsensibilität in den unterschiedlichen Lebensbereichen, von der Familie bis zum Beruf. Und sie vermittelt eine Vorstellung davon, wie man als hochsensibler Mensch gut mit sich zurechtkommt und wie ein erfreuliches Miteinander gelingen kann.“
Das Buch
Das Buch ist in sechs Kapitel unterteilt:
1. Sind Sie hochsensibel? Ist Ihr Gegenüber hochsensibel?
Hier geht es um dich selbst, dein Gegenüber und das Erkennen und Ausgleichen von Differenzen.
2. Was bedeutet Hochsensibilität?
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem Begriff der Hochsensibilität und beschreibt diesen in der Erbanlage begründeten Wesenszug näher. Es geht um ein sensibles Wahrnehmen mit allen Sinnen, um Sensibilität in hohem Maße, um Belastung und Befähigung, um Facetten der Hochsensibilität, das weite Feld der Spiritualität und der Tatsache bzw. Notwendigkeit, dass Hochsensible gut für sich sorgen müssen.
3. Hochsensibel als Kind in der Familie
Im dritten Kapitel untersucht Ulrike Hensel Phänomene wie: früher Kind, jetzt Mutter oder Vater; geringes Selbstwertgefühl und mangelndes Zugehörigkeitsgefühl; erschüttertes Vertrauen; die Last schwieriger Familienverhältnisse und die Reflexion und Neubewertung der Vergangenheit im Sinne des Reframing. Sie fragt danach, was hochsensible Kinder brauchen und stellt hilfreiche Konzepte für eine feinfühlige Erziehung vor. Es geht um die Stärkung des Selbstwertgefühls, das Achten von Empfindungen und Aufrichtigkeit, die mögliche Reduktion von Überreizung, die liebevolle Hilfe beim Überwinden von Hürden und die Herausforderung Schule. Das Kapitel endet mit dem Unterpunkt „ Hochsensibilität hat dem Kind viel zu bieten“.
4. Hochsensibel im Freundeskreis
Unterpunkte des vierten Kapitels sind das Finden von Erfüllung in engen Beziehungen; das Phänomen, dass Hochsensible begehrte Freunde sind und die Schwierigkeiten Hochsensibler mit Freundschaften, wobei es nicht um Konfliktlosigkeit, sondern um Konfliktfähigkeit, sich Raum nehmen und Grenzen setzen geht. Ein weiterer Punkt ist das Finden von Balance zwischen Alleinsein und In-Gesellschaft-Sein sowie das Sprechen mit Freunden über die Hochsensibilität und die Tatsache, dass Freundschaften sich im Laufe der Zeit wandeln.
5. Hochsensibel in der Partnerschaft
Im fünften Kapitel geht es um die vier Unterpunkte: Partnerschaft zwischen Wunsch und Wirklichkeit, eine Partnerschaft zwischen zwei Hochsensiblen bzw. einer zwischen einem hochsensiblen und einem nicht-hochsensiblen Partner und Kommunikation als A und O in der Partnerschaft.
6. Hochsensibel im Beruf
Das letzte Kapitel ist den Themen „In Bedrängnis durch die moderne Berufswelt“, Beruf versus Berufung, Hochsensibel im Angestelltenverhältnis oder in der Selbstständigkeit gewidmet.
Wesentliche Inhalte
Ulrike Hensel fasst eine Reihe von Redewendungen zusammen, die für hochsensible Menschen verwendet werden:
Sie haben eine dünne Haut,
sind zart besaitet,
reagieren wie eine Mimose,
hören das Gras wachsen,
sehen Gespenster,
lesen zwischen den Zeilen,
lesen Gedanken von der Stirn ab,
haben einen guten Riecher,
bekommen mit, wenn etwas in der Luft liegt,
verfügen über den sechsten Sinn,
bemerken einen bitteren Beigeschmack und
vieles geht ihnen auf die Nerven.
Das Phänomen Hochsensibilität beschreibt sie folgendermaßen: „Unter Hochsensibilität versteht man eine erhöhte Empfänglichkeit für äußere und innere Reize aufgrund eines veranlagungsbedingt besonders leicht erregbaren Nervensystems. Das führt zu einer nuancenreicheren, intensiveren und subtileren Wahrnehmung, einer höheren emotionalen Reaktivität und einer gründlicheren Informationsverarbeitung als bei der Mehrheit der Menschen. Man geht davon aus, dass 15 bis 20 Prozent der Menschen hochsensibel sind.“
Zugleich räumt sie mit gängigen Vorurteilen auf: „Hochsensibilität ist keine Krankheit, keine Störung, kein therapiebedürftiger Zustand, kein Makel (…). Vielmehr ist Hochsensibilität eine angeborene Variation in der Ausprägung des Nervensystems (…)“ und warnt davor, Menschen auf ihre Hochsensibilität zu reduzieren, da jeder Mensch ein einzigartiges und wundervolles Original ist. Ebenso weist sie deutlich darauf hin, dass es an sich weder gut noch schlecht sei, hochsensibel zu sein. Auch betont sie, dass Hochsensibilität keine Aussage über Extrovertiertheit oder Introvertiertheit beinhaltet, da es hingegen der landläufigen Meinung „sehr wohl extravertierte, unternehmungs- und abenteuerlustige Hochsensible“ gebe!
Hensel betont: „ Hochsensibilität ist angeboren und bleibt das ganze Leben bestehen, auch wenn sich Erscheinungsformen wandeln können. Jede Bemühung sie loszuwerden vergeudet wertvolle Energie.“
Hinweise, die Aufschluss geben können:
Wenn:
eine Person schneller als andere Anzeichen von Überreizung zeigt, wenn starke Reize, anhaltende Reize oder gleichzeitig viele verschiedene Reize auf sie einströmen (= Zustand der Überstimulation),
es der Person öfter zu laut, zu unruhig, zu hektisch, zu heiß, zu kalt, zu zugig, zu übel riechend, zu stickig ist (vergleichsweise enger Wohlfühlbereich),
die Person unkonzentriert ist, wenn nebenbei Musik läuft oder andere Gespräche im Hintergrund zu hören sind (Hintergrundgeräusche können nicht einfach ausgeblendet werden),
manche Fragen im Gespräch sehr persönlich oder gar investigativ erscheinen (große Gesprächsintensität),
es manchmal fast unheimlich ist, wie viel diese Person von deiner gefühlsmäßigen Verfassung mitbekommt, obwohl du davon gar nichts gesagt hast,
die Person erstaunlich verletzbar ist und du das Gefühl hast, jedes Wort auf die Goldwaage legen zu müssen.
Die Autorin macht deutlich: „In medizinischen und psychologischen Lexika sucht man den Begriff vergeblich. Meiner Recherche zufolge existiert bis heute keine einheitliche wissenschaftliche Definition. Eine ausführlichere Beschreibung von Hochsensibilität fällt offenbar allemal leichter als eine Definition.“ Dennoch oder gerade darum bietet sie zwei verschiedene Definitionen an, eine knappe und eine längere:
Knappe Definition von Hochsensibilität:
„Hochsensible haben anlagebedingt ein leichter erregbares Nervensystem als die Mehrheit der Menschen, sind deutlich empfindlicher gegenüber äußeren und inneren Reizen und daher leichter überstimuliert.“
Längere Version einer Definition von Hochsensibilität:
„Hochsensibilität bezeichnet eine im Vergleich zur Mehrheit der Menschen deutlich höhere Empfindlichkeit gegenüber äußeren und inneren Reizen aufgrund eines veranlagungsbedingt besonders leicht erregbaren Nervensystems. Das bringt eine subtilere, umfangreichere, nuancenreichere und intensivere Wahrnehmung mit sich; ebenso eine ausgeprägte Feinfühligkeit, eine höhere emotionale Reaktivität und eine gründlichere und komplexere Informationsverarbeitung. Damit einher gehen ein früheres Erreichen eines Zustands der Überstimulation und ein längeres Nachklingen des Erlebten. Hochsensibilität ist ein fest verankertes, unabänderliches Persönlichkeitsmerkmal, das bei 15 bis 20 Prozent der Menschen, Männern wie Frauen, auftritt.“ Sie weist deutlich darauf hin, dass Hochsensibilität „keine Abnormität, keine krankhafte Veränderung“ ist, sondern eine „natürliche Variation“.
Reizfilteroffenheit
„Wahrnehmung ist immer ein Filterprozess. Das, was uns bewusst wird, ist das Ergebnis eines Auswahlvorgangs, in dem einzelne Aspekte der Welt rings um uns und der Innenwelt erkannt, andere ausgeblendet werden. Die Filterung dient vom Grundsatz her der automatischen Unterscheidung von (im Moment) wichtig/relevant und unwichtig/irrelevant und sorgt dafür, dass das Bewusstsein (…) nicht überlastet wird und funktionsfähig bleibt.“
„(…) bei Hochsensiblen die neurologischen Wahrnehmungsfilter weniger ausgeprägt sind, weshalb schon deutlich geringere Reize die Wahrnehmungsschwelle übersteigen und ins Bewusstsein gelangen. Daher spricht man auch von einer größeren Reizempfänglichkeit und einer Reizoffenheit. Während Nicht-Hochsensible Störreize (zum Beispiel das leise Radio oder Gespräche im Hintergrund) nur zu Anfang bewusst wahrnehmen und dann weitgehend ausblenden, nachdem sie sie als irrelevant klassifiziert haben, scheint es so, dass Hochsensible permanent aufmerksamer für die Reize ihrer Umgebung bleiben. Sie sind weit weniger in der Lage, einen Störreiz als unwichtig abzuhaken und zu ignorieren; vielmehr beachten sie ihn andauernd (…). Dasselbe wie für Reize aus der Außenwelt gilt für solche aus der Welt des Körpers, der Gefühle, der Gedanken, der Ideen und Assoziationen.“
„Wenn eine bestimmte Menge an Informationen hintereinanderweg aufmerksam aufgenommen worden ist, dann entsteht der Wunsch nach einer Pause. (…) Da Hochsensible eine größere Fülle von Informationen bewusst aufnehmen und zu verarbeiten haben, ist das Maß des Erträglichen bei ihnen eher voll.“
„Im Vergleich zu Nicht-Hochsensiblen erreichen Hochsensible also deutlich früher eine hochgradige Erregung des Nervensystems und das Stadium der Überstimulation – und damit auch den Punkt, an dem sie sich zurückziehen möchten, um sich wieder zu erholen.“
Andersartigkeit
In der Sicht von Innen: „Hochsensible Menschen, die um ihre spezielle Andersartigkeit noch nicht wissen, nehmen sehr häufig an, mit ihnen stimme etwas nicht, sie seien krank oder behandlungsbedürftig, und sie versuchen, dagegen anzukämpfen, um am Ende wieder mit dem eigenen „Unvermögen“ konfrontiert zu sein. Die negativen Rückmeldungen der Menschen in ihrer Umgebung bestätigen die irrige verinnerlichte Meinung, sie seien verkehrt, am laufenden Band. Natürlich fällt den Hochsensiblen immer wieder auf, dass die meisten anderen unbeschadet und froh Dinge tun, die für sie selbst unerträglich sind. In der Folge setzen sich viele unter Druck, meinen, sich der Mehrheit anpassen zu müssen.“ Und in der Sicht von außen: „Nicht-Hochsensible haben wenig Anlass, ihr Sosein infrage zu stellen, weil sie konform mit der Mehrheit der Menschen sind und sich demzufolge ganz selbstverständlich als „normal“ betrachten. Aus diesem Blickwinkel heraus schauen sie auf die Eigenarten, Verhaltensweisen und Reaktionen der Hochsensiblen. So kommt es, dass sie Hochsensible für überempfindlich, ängstlich, scheu, schüchtern, gehemmt, schwach oder gar hysterisch und neurotisch halten. All diese Zuschreibungen missdeuten den Wesenszug komplett und rufen bei Hochsensiblen Frustration und Resignation, auch Wut und Aggression hervor. Umgekehrt sehen Hochsensible vor dem Hintergrund ihrer Erlebniswelt die Nicht-Hochsensiblen häufig als laut, rücksichtslos, stumpf, egoistisch, rüpelhaft usw. an, was gleichermaßen einer subjektiven Deutung entspringt.“
Hochsensible müssen gut für sich sorgen
„Ganz allgemein ist es für Hochsensible unbedingt erforderlich, dass sie bei allem, was sie tun und sich vornehmen, ihr Wesen berücksichtigen. Ihr hochempfindsamer Körper ist immer wieder auf ihre Aufmerksamkeit und ihre Fürsorge angewiesen. Er kann Signale senden, sie müssen sie ernst nehmen, lernen zu verstehen und sich dementsprechend zu kümmern. Abgesehen von Schlaf und Erholung brauchen Hochsensible auch einfach immer wieder eine Auszeit, bloß um den Tag Revue passieren zu lassen und über die Geschehnisse nachzudenken. (…). Sie müssen auf physiologischer und psychologischer Ebene etwas finden, was ihre Nerven beruhigt und ihnen als Kraftquelle dient.“
„Trotz aller Bemühungen, sich zu erklären, erfüllt sich Ihr dringender Wunsch, verstanden zu werden, nicht unbedingt und nicht jederzeit. Damit müssen Sie zurechtkommen. Ich meine: Verständnis wird von Hochsensiblen oft überbewertet. Eine Herzensverbindung entsteht nicht über verstandesgemäßes Verstehen, sondern über Zueinander-Hinspüren. Wichtiger scheinen mir daher Einfühlung, Respekt und Wohlwollen. Je selbstverständlicher Sie sich in Ihrem So-Sein erkennen und akzeptieren, desto wahrscheinlicher tun dies auch Ihre Freunde – auch wenn Sie ihnen mitunter wie ein Buch mit sieben Siegeln vorkommen.“
Der Weg
„Worum es im Endeffekt geht: Das Sich-Erkennen kann hochsensiblen Menschen helfen, sich selbst besser zu verstehen und mit sich ins Reine zu kommen, mit ihrer Eigenart konstruktiv umzugehen, belastende Lebensumstände mit Entschlossenheit zu verändern, besser mit den schwierigen Seiten der Hochsensibilität zurechtzukommen, selbst mehr Nutzen zu ziehen aus den bereichernden Seiten, andere mehr von den eigenen Stärken profitieren zu lassen und harmonischere Beziehungen zu ihren Mitmenschen zu erreichen.“
Meine Meinung
Ein ebenso lesenswertes und sympathisches wie differenziertes Buch mit einer guten Mischung aus Sachinformationen und persönlichen Geschichten, wie den Zitaten deutlich zu entnehmen ist. Die Schilderung vieler kleiner Situationen und Nöte aus dem Leben hochsensibler Menschen veranschaulicht das Phänomen nicht nur und macht es greifbarer, sondern dient auch einem persönlichen Wiedererkennen von tausend kleinen Umständen und führt zu einem hilfreichen Eindruck von „Ich bin nicht allein, andere kennen das auch! Wie cool ist das denn! Das hätte ich nie für möglich gehalten!“
Von daher unbedingt empfehlenswert! 🙂
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Foto: Pixabay