Die Antwort auf die Frage, was denn bitte ein Comic einer Sexualaufklärerin in einem Psychotherapie-Blog zu suchen hat, findet sich ziemlich weit unten… 😉
Liv Strömquist:
Der Ursprung der Welt.
Berlin 2017
Liv Strömquist
Liv Strömquist ist Schwedin und 1978 in Lund geboren. Sie ist eine der einflussreichsten feministischen Comiczeichnerinnen. Sie studierte Politikwissenschaften und zeichnet regelmäßig für unterschiedliche schwedische Magazine und Zeitungen. Ihre Publikationen befassen sich dabei mit sozialen Fragen in einer Bandbreite von Popkultur bis zur Bibel. Sie ist Sexualaufklärerin, Ideenhistorikerin, Normkritikerin und Kulturvermittlerin.
Der Klappentext
„Liv Strömquists Comic Der Ursprung der Welt befasst sich mit dem, was als ´das weibliche Geschlechtsorgan` bezeichnet wird. Was ist das überhaupt? Und warum verbindet die Menschheit eine so extrem unentspannte, borderline-mäßige Hassliebe mit diesem Körperteil? Aus griechischer Antike, Steinzeitfrauen, Sigmund Freud, John Harvey Kellogg, Dornröschen, hinduistischen Göttinnen, zeitgenössischen Rappern und Biologiebüchern legt Liv Strömquist ein buntes Mosaik dieses Organs, das Gustave Courbet als ´den Ursprung der Welt` bezeichnete.
Der Ursprung der Welt analysiert die historische Konstruktion der Vulva und ist dabei nicht nur informativ, sondern auch extrem lustig.“
Anna Jörgensdotter hat im Arbetarbladet darüber geschrieben: „Die Sexualaufklärerin, Ideenhistorikerin, Normkritikerin und Kulturvermittlerin Liv Strömquist hat das einzige Biologiebuch geschrieben, das man lesen muss. Scharfsinnig, befreiend und kompromisslos.“
Wesentliche Inhalte des Buches
Das Buch führt als Comic bzw. Sammlung von verschiedenen Comics auf rund 140 Seiten, größtenteils in Schwarz-Weiß, teilweise auch in Farbe, auf patriarchatskritische Weise durch die Welt der gesellschaftlichen Tabuisierung der Vulva und stellt dabei viele grundlegende Fragen wie: Warum macht man diesen Körperteil unsichtbar, verbindet ihn mit Scham, spricht nicht darüber und hat noch nicht einmal einen ordentlichen Namen dafür? Strömquist spannt den Bogen von der griechischen Antike bis zur Moderne und malt dabei ein buntes und mitunter verstörendes Bild des Umgangs mit diesem Organ.
Männer, die sich zu sehr dafür interessieren, was als „das weibliche Geschlechtsorgan“ bezeichnet wird“
Liv Strömquist beginnt mit einer Liste von Männern, die sich „zu sehr dafür interessieren, was als „das weibliche Geschlechtsorgan“ bezeichnet wird“ und führt diese mit John Harvey Kellogg (1852 – 1943) an. Er hat nicht nur die Cornflakes erfunden, sondern wollte in seiner Rolle als Arzt Frauen davon abhalten, ihr Geschlecht anzufassen. Anti-Onanie war damals in der Medizin sehr aktuell und Kellogg schrieb tatsächlich Gesundheitsbücher, in denen er verbreitete, dass Onanie Gebärmutterkrebs, Epilepsie, Wahnsinn und allgemeine mentale oder physische Labilität verursache. Sein Mittel gegen die gefährliche Onanie war die Applikation von reiner Karbolsäure auf die Klitoris. Strömquist: „Wenn Sie also der Meinung sind, dass das Schlimmste, was Kellogg´s Cornflakes den Frauen angetan haben, die Millionen Werbefilme sind, in denen Anorektikerinnen Stretchübungen am Pool machen, während sie langsam eine Schale gräulicher Frühstücksflocken verspeisen und das als ein erstrebenswertes Lebensziel darstellen, sollten Sie Ihre Meinung überprüfen (…).“
Hast du das gewusst? Nein? Ich auch nicht…
Auf ähnliche Weise räumt Liv Strömquist auch mit anderen Personen des öffentlichen Lebens wie z.B. Augustinus (354 – 430) auf. Dieser hatte in seinem Buch „Bekenntnisse“ erzählt, dass er in seiner Jugend Sex gut fand und auch eine Freundin hatte. Später kam er aber auf die Idee, dass Sex ekelhaft und falsch sei und schrieb: „Ich trübte den Quell der Freundschaft mit dem eklen Schlamme der Sinneslust, ihren reinen Glanz verdunkelte ich durch höllische Lüste“. Nach Strömquist war das „für die damalige Zeit ein ziemlich revolutionärer Gedanke. In der Antike beispielsweise hielt man Erotik und Verlangen für göttliche Gaben. Und dann kommt also Augustinus auf eine Idee, auf die vorher niemand gekommen war, nämlich dass Sex keine göttliche Gabe sei, sondern vielmehr ein Verrat an Gott.“ Daher beschloss der Mann, für den Rest seines Lebens im Zölibat zu leben.
Eine andere Person ist John Money (1921 – 2006), ein Professor für klinische Psychologie. „Aber er liebte nicht nur die klinische Psychologie, er liebte auch das binäre Geschlechtssystem“ – die Vorstellung, dass es zwei gegensätzliche Geschlechter gibt – ein weibliches und ein männliches – und dass dies durch die Geschlechtsorgane bestimmt wird. Strömquist: „Eine Sache, die im binären Geschlechtssystem stört, ist, wenn Babys geboren werden, deren Geschlechtsorgane nicht dieser kulturellen Vorstellung von zwei Geschlechtern entsprechen. Ca. 1 – 2% aller Neugeborenen weisen Geschlechtsmerkmale auf, die man nicht als ´männlich` oder ´weiblich` kategorisieren kann. Money propagierte, dass diese Babys umgehend operiert werden müssten, damit sie ins binäre Geschlechtssystem passten, und seine Ansichten waren extrem einflussreich.“
Die nächsten Herren in der Liste “ waren die „Typen aus den Hexenprozessen“ (15. bis 18. Jahrhundert). Die weiblichen Genitalien waren „wichtig, wenn man herausfinden wollte, ob jemand eine Hexe war oder nicht. Man musste die Geschlechtsorgane der jeweiligen Frau begutachten. Es gab nämlich die Theorie, dass Hexen ´Hautwucherungen, versteckte Warzen oder Zitzen` hätten, an denen der Teufel und seine Kumpanen saugen konnten“. So fand man während einer Gerichtsverhandlung gegen die „Hexen von Lancashire“ im Jahr 1634 bei fast jeder zweiten Angeklagten verschiedene Teufelsmerkmale an ihren „heimlichen Stellen“.
Der nächste Herr ist Baron Georges Cuvier (1769 – 1832), Paläontologe und Zoologe. Dieser interessierte sich sehr für die Geschlechtsteile einer südafrikanischen Frau, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Sklavin an einen Schiffsarzt verkauft und nach London gebracht worden war. Dort stellte der Arzt sie praktisch nackt aus und nahm Eintritt dafür, wobei er sie als „Hottentotten-Venus“ vermarktete. Die Menschen kamen in Strömen und betrachteten v.a. den großen Hintern und die großen inneren Schamlippen der Frau. Gegner der Sklaverei protestierten gegen die Ausstellung und sie wurde geschlossen. Die Frau wurde nach Frankreich verkauft und dort auf ähnliche Art ausgestellt. Cuvier nun fertigte einen Gipsabguss ihres Körpers an und in seinem Obduktionsbericht befasst er sich auf neun Seiten mit der Vulva, dagegen aber nur in einem Satz mit ihrem Gehirn. Cuvier wollte – als wissenschaftlicher Rassist – die Vulva der Frau als Beweis für ihre mutmaßliche Unterlegenheit als Schwarzer anführen. Er vertrat die Ansicht, große innere Schamlippen seien ein Zeichen für „animalische Sexualität“.
Auf Platz eins der Liste von Männern, die sich zu sehr für „das weibliche Geschlechtsorgan“ interessierten, setzt die Autorin die Männer, die 1965 in Rom Königin Christinas Grab öffneten: der Gynäkologe Elis Essen-Möller und der Autor und Journalist Sven Stolpe. Dabei ging es um Anhaltspunkte für ihre „eventuelle Intersexualität“. So wurde Christinas Heiratsunwilligkeit als Beweis dafür angesehen, dass sie ein Hermaphrodit war. Liv Strömquist: „Das Komische daran ist, dass ein paar alte Knacker sich hiervon in vergnügter Runde im Jahr 1965 dazu inspirieren ließen, eine Graböffnung zu veranlassen!“ Da ein 400 Jahre altes Skelett aber leider keine Aussage über die „sexuelle Konstitution“ einer Person ermöglicht, konnte eine Intersexualität nicht diagnostiziert werden.
Umgedrehter Hahnenkamm
Weiter geht es mit dem Thema der intimchirurgischen Eingriffe wie die Verkleinerung der Schamlippen, deren Zahl sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt haben soll. „Die Sache ist so: Wenn Männer schönheitschirurgische Eingriffe an ihren Geschlechtsorganen vornehmen lassen, geht es darum, sie größer zu machen, während Frauen durch schönheitschirurgische Eingriffe ihre Geschlechtsorgane kleiner machen wollen. Aber warum?“
Weiter geht es darum, was das eigentlich ist, was als das „weibliche Geschlechtsorgan“ bezeichnet wird, nämlich drei Teile: „1. den sichtbaren, äußeren Teil: die Vulva, 2. die Körperöffnung, die den äußeren und den inneren Teil miteinander verbindet: die Vagina, 3. die inneren, nicht sichtbaren Teile: Gebärmutterhals, Gebärmutter und Eierstöcke“. Liv Strömquist macht deutlich: „In unserer Kultur werden hiervon komischerweise die äußeren, sichtbaren Körperteile nur selten abgebildet oder in der Öffentlichkeit benannt. Das Wort ´Vulva` (Venushügel, Klitorisvorhaut, Klitoriseichel, äußere Schamlippen, innere Schamlippen, Vagina, Damm) kommt in der Alltagssprache ebenfalls nicht vor“, spricht von einer kollektiven sprachlichen Verwirrung und nimmt in diesem Zusammenhang auch verschiedene Aufklärungs- und Biologiebücher auseinander.
Wusstest du, dass Jean-Paul Sartre als einer der einflussreichste Denker der westlichen Welt in seinem Klassiker „Das Sein und das Nicht“ die Ansicht vertrat, das „Sexualorgan ist vor allem ein Loch“ und die Frau habe ein geringeres Selbstwertgefühl, da sie durchlöchert sei und sich nach einem fremden Fleisch sehne, das diesen Mangel behebe und in Seinsfülle verwandele?!
Liv Strömquist argumentiert in die Richtung, „dass nämlich die Abneigung der Kultur, die Vulva zu benennen und abzubilden, vermutlich stark dazu beiträgt, dass Frauen ihre Schamlippen verkleinern lassen wollen.“ Daraus folgert sie, dass das Geschlecht eine kulturelle Konstruktion ist und der Fall der Intimchirurgie zeige, dass die Kultur buchstäblich das biologische Geschlecht konstruiere.
Während die Vulva in unserer Kultur in Sprache und Bild versteckt wird, gibt es gleichzeitig eine uralte, entgegengesetzte Tradition– nämlich, die Vulva zu zeigen. Zum Beispiel in der mythischen Erzählung zur griechischen Fruchtbarkeits- und Erntegöttin Demeter und der von den Anatoliern übernommene Göttin Jambe oder Baubo, die ihren Unterleib entblößte und die traurige Demeter damit wieder zum Lächeln brachte. Folglich waren rituelle Vulva-Schauen häufig Bestandteil bei der Verehrung der Göttin Demeter – wie auch in anderen religiösen Kulturen mit überwiegend weiblichen Anhängern. Strömquist schreibt: „Es gibt zudem Beschreibungen, wie Frauen in Ägypten 400 Jahre v. Chr. im Zusammenhang mit Feierlichkeiten zu Ehren der Katzengöttin Bastet die weiblichen Einwohner eines Ortes zusammenriefen und Tänze aufführten, bei denen sie ihre Geschlechtsorgane entblößten. Sogar im 19. Jahrhundert treten in europäischen Fabeln noch Frauen auf, die dem Teufel ihr Geschlecht zeigen und ihn auf diese Weise besiegen (…). Bis ins Mittelalter wurden Statuen von nackten Frauen mit gespreizten Beinen aufgestellt, z.B. in Klöstern, Kirchen, an Stadttoren oder über Hauseingängen.“ Diese Figuren kamen am häufigsten in Irland und England vor. Man findet sie jedoch in vielen Ländern und sie „werden oft mit den Nachwirkungen der keltischen Kultur in Verbindung gebracht.“ Ferner gibt es auf der ganzen Welt Figuren, die ihre Vulva zeigen wie z.B. im Rahmen des indischen Yoni-Kults. „In diesem Kult wird der Yoni als eine heilige Stätte gehuldigt, eine Passage für subtile Kräfte, ein Portal zu kosmischen Mysterien.“
Am Ende dieses Comics wirft die Autorin die Frage auf, „warum die Menschen in der Steinzeit etc. sich die Mühe machten, Zeichnungen/Skulpturen mit Vulven anzufertigen.“ Dazu gibt es sehr viele Theorien. „Aber zwei Sachen sind auf jeden Fall eindeutig: 1. Dass die Vulva – in dieser Epoche (da die Darstellungen in Gräbern und Tempeln gefunden wurden) Bestandteil des Sakralen/Spirituellen/Existenziellen war, und nicht – wie später – im Gegensatz zum Sakralen/Spirituellen/Existenziellen stand. 2. Dass die Menschen beim Anblick von Vulven nicht derart in Panik gerieten wie in späteren Zeiten.“
Mittlerweile solltest du einen deutlichen Eindruck vom Schreibstil der Autorin und der Ausrichtung des Buches haben. Die folgenden Comics über den Orgasmus und die Menstruation sind ähnlich aufklärend, kontrastierend und in erfrischender Frechheit geschrieben.
Im Zusammenhang mit dem Orgasmus bringt Liv Strömquist ihre Message folgendermaßen auf den Punkt: Immer, wenn es um weibliche Sexualität und weibliche Orgasmen gehe, würden sie immer in Beziehung zum Männerkörper/Orgasmus/zur männlichen Sexualität gesetzt werden. „Zunächst, wie wir uns erinnern, als eine schlechtere Version – und später als Gegensatz. Aber nie als etwas Eigenes.“
Das Fazit über den Comic zur Menstruation liest sich so: „Manchmal kann man es betrüblich finden, dass unsere Kultur von der Menstruation als Phänomen, Erfahrung, existenzielles und künstlerisches Thema bereinigt wurde und dass die Menstruationserfahrung in der Öffentlichkeit kaum präsent ist.“
Meine Meinung
In ihrem Comic befasst sich Liv Strömquist mit der gesellschaftlichen Tabuisierung der Vulva und der Menstruation und analysiert die Historie und die kulturelle Haltung ebenso informativ und aufklärend wie frech, böse, provokativ. „Extrem lustig“, wie auf dem Buchtitel charakterisiert, finde ich das Buch allerdings nicht. Dafür sind die Inhalte viel zu empörend, verstörend und erschreckend wenig bekannt, aber wichtig für das Selbst- und Fremdverständnis von Frauen, ihren Körpern und ihrer Sexualität. Und genau deshalb, weil Aufklärung und Wissen, Klarheit und Neubewertung so wichtig für eben dieses Selbst- und Fremdverständnis von Frauen, ihren Körpern und ihrer Sexualität sind, erscheint die Besprechung dieses Comics genau hier in diesem psychotherapeutischen Blog!
Auch wenn Comics sicher nicht nur Fans haben, lohnt sich die Lektüre allemal. Allein die Ausführungen über Textanalysen der 1900-1950er Jahre, die zeigen, dass der Begriff „Klitoris“ kaum auftauchte und die Erkenntnis, dass die Größe der Klitoris bis 1998 unentdeckt blieb, die kritische Untersuchung von Textpassagen bzw. die Sprache der Sexualität aus Biologie-Büchern, die nur scheinbar freche zeichnerische Darstellung der Menstruation – weil sie unsere Sehgewohnheiten (ver)stört – und eine komplette Seite mit dem Wort, das in der Werbung für Binden und Tampons allzu häufig vorkommt, sind an Eindrücklichkeit kaum zu toppen.
Dabei schreckt die Autorin auch nicht vor Polarisierungen und Generalisierungen mit Begriffen wie „unsere Kultur“, „immer“, „nie“ usw. zurück, aber vielleicht sind ja starke Aussagen schwer von starken Kontrasten und eindrücklichen Bildern zu trennen!?
Ein wichtiger Beitrag für uns alle!
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Foto: Pixabay