Dieses Buch sprang mich regelrecht an der Kasse eines Buchladens an, als ich gerade ein Geschenk für jemanden kaufte. Ich las den Klappentext, ließ die Verkäuferin von ihrer Lektüre berichten und beschloss, es mir nach meiner Reise anzuschaffen. Das tat ich auch, fing an zu lesen und konnte gar nicht mehr aufhören. Lange Bahnfahrten zur Arbeit wurden kurz, nach dem Mittagessen las ich weiter und plötzlich war es dunkel… Was das mit einer Praxis für Psychotherapie zu tun hat, erschließt sich spätestens im letzten Abschnitt…
Hazel Prior: Die Saiten des Lebens
Hamburg 2020
Der Klappentext
„Manchmal braucht es eine zufällige Begegnung, um dem Leben eine neue Richtung zu geben.
Ellie, Hausfrau und leidenschaftliche Spaziergängerin, stößt bei einem ihrer Streifzüge durch das Exmoor auf eine Scheune voller Harfen. Dort lebt und arbeitet Dan. Harfen zu bauen ist seine große Leidenschaft. Er liebt es, sich ganz dem Bau der Instrumente zu widmen und mit sich und der Welt alleine zu sein. Denn Menschen sind ihm oft ein Rätsel. Doch Ellie mag er auf Anhieb, weshalb er ihr spontan eine Harfe schenkt. Kurze Zeit später steht sie wieder vor seiner Tür. Sie könne das Geschenk nicht annehmen. Aber geschenkt ist geschenkt, die Harfe wird immer Ellie und nie jemand anderen gehören, sagt Dan. Er schlägt ihr einen Kompromiss vor: Sie kann die Harfe bei ihm unterstellen, wenn sie lernt, darauf zu spielen…“
Die Autorin
Hazel Prior wurde in Oxford geboren und lebt heute in Exmoor. Sie ist Harfenistin, spielt regelmäßig auf Festivals und tourt mit ihrer Harfe durch England. Sie hat zahlreiche Kurzgeschichten verfasst, die in literarischen Magazinen veröffentlicht wurden. Mit `Die Saiten des Lebens´ hat Hazel Prior nun ihren ersten Roman veröffentlicht – und schreibt bereits an einem zweiten Buch.
Das Buch
In der Innenklappe des Buches ist eine Zusammenfassung der ersten anderthalb Seiten der Geschichte abgedruckt: „Heute ist eine Frau in meine Scheune gekommen. Ihr Haar hatte die Farbe von Walnussholz, ihre Augen das Braun von Farnkraut im Oktober. Ihre Strümpfe waren kirschrot. Über der Schulter trug sie eine große Tasche mit einer dicken viereckigen Schließe, die war offen. Auch der Mund der Frau stand offen. Sie blieb in der Tür stehen und trat von einem Fuß auf den anderen. Ich habe sie eingeladen, hereinzukommen. Die Frau kam herein. Ihre Strümpfe waren wirklich sehr rot. Ihr Gesicht auch. Durch drei Fenster fiel das Morgenlicht zu uns herein. Es umriss die Konturen der schrägen Dachbalken und beschien die Holzlocken auf dem Boden. Es ließ die geschwungenen Formen um uns herum glänzen und die Saiten Schatten auf den Boden werfen. Die Frau schüttelte den Kopf, ihre walnussbraunen Haare umtanzten ihr Gesicht. Ist das toll! Sind die schön, unendlich schön! Ich komme mir vor wie im Märchen. Und seltsam, dass ich diese Scheune ausgerechnet heute entdeckt habe!´ Es war Samstag, der 9. September 2017. War das ein besonders seltsamer Tag, um eine Scheune voller Harfen zu entdecken? Ich lächelte höflich. Viele Menschen finden Dinge komisch, über die ich gar nicht staune, und für viele Menschen sind Dinge normal, die mir wirklich sehr sonderbar vorkommen.“
Ellie Jacobs, die Hausfrau von Exmoor, lernt Dan Hollis, den Harfenbauer von Exmoor (oder den Herzensbrecher von Exmoor?) kennen. Die zufällige Begegnung findet ausgerechnet gegen Ende eines Spaziergangs am Todestag ihres Vaters statt, an dem sie an ihre „Vor-40-Liste“ gedacht hat. Das ist eine Auflistung von Dingen, die man vor seinem Geburtstag gemacht haben will. Auf Ellies Liste steht Harfe spielen.
Ellie ist mit Clive verheiratet: „Ich liebe ihn natürlich, und Clive liebt mich auch, aber vieles am anderen verstehen wir nicht. Ich verstehe beispielsweise nicht, wie er sich für Fußball oder Finanzen begeistern kann. Er begreift nicht, warum ich mich mit meinem Skizzenblock ins Exmoor verdrücke und Gedichte schreibe – Gedichte über Borken und Wolken, Spinnennetze und plätscherndes Wasser, die niemals jemand lesen wird. Clive mag es unkompliziert. Es kommt ihm entgegen, wenn alles nach gewissen Regeln verläuft. Meine lyrischen Ergüsse passen nicht so recht in dieses Raster. Mein aktuelles Problem – eine Harfe von jemand geschenkt zu bekommen, den ich gerade erst kennengelernt habe – ist nicht mal ansatzweise mit diesen Regeln zu greifen.“
Andererseits fühlt sie sich seit der Begegnung mit Dan in der Harfenscheune völlig verändert: „So etwas passiert mir normalerweise nicht. Ich muss durch eine Art Zaubertür in das Leben eines anderen Menschen gefallen sein. Mein Leben hat sich in einen leichten, farbenfrohen Tanz verwandelt. Als ich heute Morgen aufgewacht bin, sah es noch ganz anders aus.“
Dan ist anders als andere Menschen: „Dann fiel mir auf, dass ich mich gar nicht für die Frau interessiert hatte. Also unterbrach ich mich und stellte ihr die folgenden acht Fragen: Wie geht es Ihnen? Haben Sie Haustiere? Was ist in der großen Tasche? Was ist ihre Lieblingsfarbe? Was ist Ihr Lieblingsbaum? Wo wohnen Sie? Sind Sie gerne die Hausfrau von Exmoor? Möchten sie ein Sandwich?
Sie gab mir diese Antworten: Danke, gut. Nein. Eine große Kamera, ein Skizzenbuch und eine Thermoskanne mit Brühe. Rot. Birke. Ungefähr fünf Meilen südwestlich von hier. Hm. Das wäre sehr nett.“
Ein Gespräch mit seinem Freund, dem walisischen Postboten Thomas, kann sich mal so anhören: „Ich sage, dass Geld meiner Meinung nach falsch herum funktioniert. `Verstehe ich nicht, Kumpel´, sagt er. `Was meinst du mit <falsch herum>?´ Ich fange noch mal von vorne an und erkläre es ihm in kleinen Schritten. Eine Ein-Penny-Münze sei doch wirklich wunderschön, ob er das nicht finde. Thomas wirkt unsicher, also versuche ich es anders. Ein Penny sei ein höchst sympathischer Gegenstand. Er habe eine angenehme Größe, sei zierlich, einfach perfekt. Seine Farbe gleiche der der untergehenden Sonne: strahlende Bronze. Auf der Rückseite sei ein Fallgitter eingraviert, spannend. Es könne auch der obere Teil einer Harfe sein, noch spannender. Ich werde nie müde, Pennys anzuschauen. Ich behalte alle Pennymünzen, poliere sie mit Essig und lege sie auf die Fensterbank in der Scheune, wo sie im Licht blitzen. Jeder Penny ist ein Kunsterk. Kein anderes Geldstück ist so schön. Thomas verzieht den Mund. Die Zwei-Penny-Münze, fahre ich fort, (…) Thomas sieht auf die Uhr. Ich rede weiter. Die Banknoten (…) Thomas öffnet die Tür seines Postautos und steigt ein. (…) Durch das geöffnete Fenster rede ich weiter auf Thomas ein.“
Oder so: „Ich bestätige, dass Ree Wild tatsächlich sehr umwerfende Brüste habe. `Ah, du gibst es also zu! Du bist genau wie ich. Du hast eine…`- er überlegte – ´eine kleine Schwäche für große Melonen.` Ich sagte, ja, ich möge Melonen, egal in welcher Größe. Und ich möge auch weibliche Brüste. `Besonders die von Ree Wild?´ Irgendwie hatte Thomas einen verklärten Blick. Er trank einen großen Schluck Cider. Ja, sagte ich, die Brüste von Ree Wild möge ich ganz besonders. (…) Ich bemerkte, Ree Wilds Brüste seien auch sehr befriedigend, weil man sie so schön streicheln könne, wenn sie nackt im Bett liege. Thomas verschluckte sich fast, der Cider spritzte ihm aus dem Mund, quer über den Tisch. `Die nächste Runde geht auf mich, Kumpel´, sagte er danach.“
In der Zwischenzeit beginnt Ellie, die Welt aus einer anderen Perspektive zu sehen: „Ich habe mich bisher nicht näher mit Kieseln beschäftigt, doch durch Dan sehe ich sie allmählich mit anderen Augen. Sie sind Kunstwerke von unendlicher Vielfalt und Schönheit. Vielleicht schreibe ich mal ein Gedicht darüber.“
Allmählich nehmen Dan und das Harfespielen in ihrem Leben eine derartige Eigendynamik auf, dass sie sich immer häufiger an ihrem persönlichen Mantra: „Clive ist mein Fels. Clive ist mein Fels. Clive ist mein Fels“ festklammert, um dann gegen Ende der Geschichte zu einer quasi weltbewegenden Erkenntnis zu gelangen. Dabei spielen dann sowohl ein Fasan als auch eine Kerze eine nicht ganz unerhebliche Rolle…
Meine Meinung
Wundervoll! Leise und laut, zart und kraftvoll, Liebe und Wut, Frau und Mann, Frau und Vater, Frau und Mutter, Frau und Schwester, Frau und Freundin, Mann und Schwester, Mann und Freund, Mann und Freundin, Mann und Sohn, Mensch und Tier, Mensch und Natur, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Kreativität, Träume und Sehnsüchte, Geheimnisse, Depression. Verschiedene Antworten auf die Fragen, wer für wen einen Fels in der Brandung darstellt und warum bzw. warum nicht. Und auf die Fragen, wer oder was normal ist und wer oder was nicht. Und ob es da nicht auch ganz verschiedene Blickwinkel geben kann.
Die Geschichte beginnt zart und leise, nimmt dann zunehmend an Fahrt und Dramatik auf, steuert auf einen Höhepunkt zu und danach ist nicht mehr alles so, wie es vorher war und das ist auch gut so.
Was also hat dieses Buch mit Psychotherapie zu tun?
Nun, zum einen ist in dem Buch fast alles drin, was das Leben so ausmacht.
Zum anderen beinhaltet es eine sehr achtsame, respekt- und liebevolle Beschreibung eines – nicht nur äußerlich – attraktiven Asperger Autisten.
Was noch?
Sag du es mir!
Ich freue mich auf Kommentare von anderen Leserinnen und Lesern dieses wundervollen Buches!
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Foto: Pixabay