Vom Judo, dem rosaroten Panter und der Verteidigung der Autonomie.

 

In der Buchvorstellung heute das etwas andere Selbsthilfebuch zum Thema Depression. 

 

Alexander Wendt:

Du Miststück. Meine Depression und ich.“

2. Auflage 2016

Der Klappentext

Bei Depressionen handelt es sich um eine lebenslange Begleitung, auch wenn sie sich gerade nicht zeigt. Es geht darum, trotzdem wieder festen Grund unter die Füße zu bekommen. Am ehesten lässt sich diese Verteidigungstechnik mit Judo vergleichen: Dort übt man auch als erstes, richtig zu fallen. Dann, die Bewegungsenergie des Gegners umzuleiten. Und drittens, sich aus sehr festen Umklammerungen zu lösen.“

Die meisten Depressiven müssen lebenslang mit ihrer Krankheit zurechtkommen. Sie verschwindet zwar ab und zu unter einer Oberfläche, manchmal von allein, meist mit medikamentöser Hilfe. Aber immer mit dem Motto des rosaroten Panthers: Ich komm wieder, keine Frage. Du musst mit einem Zustand leben, den du dir nicht ausgesucht hast, an dem du nicht schuld bist, und dem du höchstwahrscheinlich nie ganz entkommst. Das ist die eine Nachricht. Die andere: Du kannst mitbestimmen, wie du mit deiner lästigen Begleitung lebst. Du musst dich ihr nicht unterwerfen. Du musst deine Autonomie nicht aufgeben. Darum geht es in diesem Buch: um die Verteidigung der Autonomie trotz ungünstiger Bedingungen.“

Alexander Wendt hat ein sehr persönliches und sprachgewaltiges Buch über das drängendste Problem von Millionen Menschen geschrieben: die Depression. Ein absolut offener und reflektierter Erfahrungsbericht über seinen Umgang mit einer Krankheit, der man nicht entkommt, gegen die man sich aber sehr wohl wehren kann. Wendts Buch ist kein klassisches Selbsthilfebuch. Aber eines, das hilft.“

Harald Schmidt, der Schirmherr der Deutschen Depressionshilfe, schreibt: „Eine meiner Lieblingsstellen in diesem faszinierenden und ermutigenden Buch: `Hans im Glück´ handelt eigentlich von einer erfolgreichen Depressionsbekämpfung. Hat das schon mal jemand festgestellt?“

 

Der Autor

Alexander Wendt wurde 1966 in Leipzig geboren und arbeitet seit 1989 als Journalist – unter anderem für den Stern, die Wirtschaftswoche und den Tagesspiegel. Seit 1995 gehört er zur Redaktion des Focus. 1991 erhielt er den Axel-Springer-Preis. Der Autor und Wirtschaftsjournalist lebt und arbeitet in München. Im Februar 2014 begab er sich wegen seiner Depression zunächst in stationäre und dann in teilstationäre Behandlung.

 

Das Buch

Das Buch besteht aus neun Kapiteln:

  1. Die Depression und ich, wir zwei

    Meine erste depressive Phase erlebte ich 1999. Wie die meisten Depressiven vermied ich den Begriff Depression, ging nicht zum Arzt, nahm keine Medikamente, sondern wartete einfach ab. Es handelte sich um eine leichte Episode. Ich kam mit dieser Methode zurecht. Danach folgten zwei mittlere Episoden mit ärztlicher Behandlung und Medikamenten. Leider den falschen. Anfang 2014 kehrte die Depression auf eine Weise zurück, dass ich froh darüber war, einen Platz in einer psychiatrischen Klinik zu bekommen. Auf meine Medikamente freute ich mich. Jedenfalls erlebte ich ein dem Zustand angemessenes Freudesurrogat. Die Zwanzig-Milligramm-Pillen halfen tatsächlich. Sie helfen mir noch immer.“

  2. Den Stecker ziehen

    Über Citalopram, erklärt mir der Pfleger, gebe es dreierlei zu sagen. Bei manchen schlage es sofort an, bei manchen wirke es erst nach Wochen. Wieder andere merkten gar nichts.Spezialfälle gebe es auch, aber selten: antidepressive Wirkung, dann plötzlicher Wirkungsabbruch. Oder statt des antidepressiven einen depressionsverstärkenden Effekt. (…) Bisher, so versichert mir der Pfleger, habe sich noch für jeden das richtige Psychopharmakum gefunden.“

  1. Zuluprinzessin. Hans im Glück.

    Ich müsste an diesem Abend den Fragebogen der Klinik zu kaputten Türschlössern und Bestrafungswünschen ausfüllen, der sich liest, als hätte ihn J. Edgar Hoover 1936 im Zustand einer schmerzhaften Dauererektion verfasst. Aber es kommt mir sinnvoller vor, stattdessen eine eigene Liste zu schreiben:

    1. Beim Versuch, deine Depression kleinzukriegen, sind dir die hinterhältigsten

    Tricks erlaubt. Sei dabei nicht schüchtern (…).

    2. Du solltest dich nicht davor fürchten, in die Psychiatrie zu gehen.

    3. Du musst dich nicht vor Medikamenten fürchten.

    4. Denk daran, dass alles, was dir gerade hilft – joggen, Serotonin-

    Wiederaufnahmehemmer, Schlafmittel – seine Wirkung irgendwann verlieren

    könnte. Wenn dir also etwas hilft, dann benutze es sofort. Bleib so lange wie

    nötig dabei.

    5. Hab keine Angst vor Gespenstern.“

  2. Meine kurze Geschichte der Depression

    Auf die Frage, ob jemand seine Depression bekannt machen sollte, in welchem Stadium auch immer, empfehle ich eine klassische Formel. Alles, was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht zu schweigen.Jeder sollte genau überlegen, ob er gerade dabei ist, die feine Linie zwischen Offenheit und Selbstverletzung zu überschreiten.“

    In ihrer Autobiographie ´Wishful Drinking´ beschreibt Carrie Fisher ihre manisch-depressive Prägung wie ein alter Veteran: ´Zu den Dingen, die mich am meisten verblüffen (und davon gibt es wenige), gehört die Frage, wie es möglich ist, dass ein derart anhaltendes Stigma an mentalen Krankheiten und speziell an bipolaren Störungen haftet. Meiner Meinung nach verlangt das Leben mit einer manischen Depression im erschütterndem Maße Eier. Nicht ganz unähnlich einer Tour durch Afghanistan, nur, dass Bomben und Granaten in diesem Fall von innen kommen. Manchmal kann das Leben als bipolar Gestörter eine Herausforderung sein, die alles abverlangt, die eine Menge Kraft und sogar mehr Mut fordert, so dass du stolz darauf sein solltest, wenn du mit dieser Krankheit lebst und dabei funktionierst, statt dich zu schämen. Zusammen mit dem ständigen Strom der Medikamente sollten sie Orden ausgeben.´“

    Was tatsächlich mit dem ständigen Strom der Medikamente verabreicht werden müsste, wäre in jeder psychiatrischen Klinik eine Vortragsserie zur Depressionsgeschichte. Denn wer sich damit herumschlägt, muss sich immer auch mit einem ganz anderen Überbau an eigenen Zweifeln und fremden Vermutungen auseinandersetzen als beispielsweise ein Diabetiker. Ein Depressiver, der seine Depression zur friedlichen Koexistenz erziehen will, braucht als Erstes Übersicht. Warum geben so viele den gutgemeinten Rat, über psychische Krankheiten am besten gar nicht zu reden? Warum suchen so viele psychisch Kranke nach ihrer falschen Prägung in ihrem Lebenslauf?“

    Mein Mantra Ist alles nur biochemisches Theater hilft mir enorm.“

  1. Tricks

    Warum sollte ein Kranker überhaupt zu Tricks greifen?

    Weil sie weiterhelfen.

    Die Dressur eines Monsters beruht wie jede Erziehung auf Tricks. Eine Depression verhält sich wie ein symbiotisches Monstrum, das viele Gestalten und Namen annehmen kann, sein Wesen aber so wenig ändert wie ein Carnivore mit Säbelzähnen. Ohne einen besonderen Grund beschließt ein großes, massives Etwas, mit uns zu leben. Es lässt nicht mit sich handeln, sich nicht wegschicken, mit etwas Mühe aber in bestimmten Grenzen halten. Wenigstens so weit, dass er seinem Menschen nicht die Kehle durchbeißt.

    Bei dem ersten Kniff handelt es sich im Grunde um keinen ausgefeilten Trick, sondern eher um eine Voraussetzung für angewandte Trickologie. Es gibt eine Handvoll Sätze, die das Leben in ein Vorher und Nachher teilen. Der Moment, in dem jemand sich selbst sagt: Ich bin depressiv, zieht eine solche Linie. Jeder Depressive war schon depressiv, bevor er dazu kommt, diesen Satz zu sagen. Eine Selbstdiagnose erleichtert vieles. Wer diesen Punkt erreicht, sollte auch etwas an der äußeren Form seines Lebens ändern, schon um die Trennlinie besser zu markieren.“

  2. Theorien für Praktiker

    Nach Angaben der Stiftung Deutsche Depressionshilfe fürchten viele Kranke, Pillen könnten sie abhängig machen. Für Benzodiazepine und Angstlöser wie Tavor trifft das zu, aber nicht für die gängigen Serotonin-Aufnahmehemmer, die wir hier verabreicht bekommen. Die zweite Angst besteht offenbar darin, dass Leute Persönlichkeitsveränderungen durch Psychopharmaka erwarten. Was mich betrifft, ich hoffe gerade auf eine chemisch gestützte Deprogrammierung. Eine lange Serie von Depressionen baut das Gehirn nämlich ernsthaft um. Sie löscht Farben, reißt Kabelstränge heraus, mauert Räume zu und klebt Fenster ab. Die Zahl der möglichen Depressionsepisoden im Leben liegt zwischen eins und dreißig.“

  3. Drinnen & draußen

    Außerdem muss es doch eine Dramaturgie geben, einen Vektorpfeil, der für mich nach vorn zeigt. Depression, Klapse, Therapie, Verbesserung, Wiedergutwerdung. So muss es doch regulär laufen.“

    Unsere wichtigste Erkenntnis lautet, dass Depressive in gewissen Grenzen instinktiv das zu sich nehmen, was ihnen hilft. In der Stationsküche waren wir gleich nach meinem Einzug ins Gespräch gekommen, weil wir beide ein Netz mit Walnüssen mit uns führten, (…); ich jedenfalls las erst deutlich später, dass Walnüsse zu den tryptophanreichsten Früchten gehören. Bei Tryptophan handelt es sich um den kostbaren Ausgangsstoff, aus dem das Gehirn Serotonin herstellt, den Neurotransmitter, dessen Mangel oder fehlerhafte Weiterleitung zu einer Angst vor Bahnsteigkanten oder zu widerlichen Träumen führt. Zu Tryptophanbomben zählen außerdem noch Bananen (was meine Bananensucht am Anfang der Depression erklärt), Kakao und damit auch Schokolade.“

    Die ideal konstruierte Depressionsklinik besäße also einen ausgedehnten Kraftraum im Keller, Wal- und Pekannussspender in allen Ecken, Leuchten, die eine Sonne mit Junistärke imitieren, keine Fernseher (zu deprimierend), dafür meine Kurze Geschichte der Depression von der Antike bis jetzt und ein zielgruppenaffines Klatsch- und Tratschmagazin mit herzerwärmenden Geschichten über Winston Churchill, Virginia Woolf, Anne Sexton, Klaus Mann und andere unterhaltsame Melancholiker auf kleinen Beistelltischchen. Alkohol und andere Stimulanzien wären nach wie vor nicht zugelassen (zu viele Nebenwirkungen), Zucker gäbe es höchstens in Kleinstportionen (…). Süßes führt zwar zu einer kurzen Serotoninwelle im Gehirn, bei starkem Konsum allerdings auch zu Diabetes, der nach neueren Erkenntnissen in einem unguten Zusammenhang mit Depression steht.“

    Auch die meisten Depressiven hatten eine überwiegend schöne Kindheit.“

    Bisher steht nur in groben Zügen fest, wie Depressionen entstehen, warum sie sich bei den einen ausbreiten, lebenslang kommen und gehen und bei anderen nur einmal aufflackern und dann für immer enden. Deshalb gilt das Gleiche für die Gegenmittel. In ihrer Funktion gibt es eine größere statistische Unschärfe. Je nach Untersuchung wirken Antidepressiva in etwa drei Viertel der Fälle, bei einem Viertel verbessern sie den Zustand nicht. Unter den grundsätzlich Empfänglichen funktionieren die Medikamente wiederum bei einem Viertel nur stark verzögert, was den Patienten zunächst auch wie eine Wirkungslosigkeit vorkommen muss. Je nach Untersuchung – auch darin existieren natürlich Unsicherheiten – verschwinden etwa in einem Viertel der Fälle leichte und mitunter auch mittlere Depressionen nach einer Weile ohne Medikamente, sie heilen also von selbst aus. Außerdem zeigt sich bei etlichen Depressiven eine Alles-oder-nichts-Reaktion auf Antidepressiva, manche Tabletten treffen offenbar den richtigen Punkt, andere erzeugen nur Mundtrockenheit oder Gewichtszunahme oder hinterlassen überhaupt keine Reaktion im Körper. In ihrem permanenten Unsicherheitsmodus unterscheidet sich die Behandlung von Seelenkrankheiten allerdings überhaupt nicht von vielen anderen Gebieten der Medizin. Medikamente wirken auch bei anderen Krankheiten statistisch nur zu einem bestimmten Prozentsatz.“

    Die Medikamente, über die wir sprechen, existieren überhaupt erst seit den fünfziger Jahren. Der Schweizer Arzt Roland Kuhn war ein verschrobener und leicht kränkbarer Mann. Lebenslang kam er kaum über seine Heimat hinaus. Er arbeitete ab 1939 in der psychiatrischen Anstalt Waldau, später in der Klinik Münsterling am Bodensee, die er von 1971 an leitete. Es war der höchste Posten, den er je erreichte. (…)

    Anfang der fünfziger Jahre mischte er für das Pharmaunternehmen Ciba Geigy ein Neuroleptikum, das er auch einigen wenigen Depressiven und Schizophrenen in seiner Klinik Münsterlingen verabreichte. Die Ergebnisse fielen erstaunlich gut aus, deutlich besser als die schlaffördernde Wirkung des Mittels. (…) Als er im September 1957 beim Weltkongress für Psychiatrie in Zürich sein Mittel namens Imipramin vorstellte, hörten ihm nur wenige Kollegen zu. Niemand hielt den provinziellen Klinikarzt für eine Kapazität, erst recht nicht für einen Revolutionär seines Fachs. Ciba brachte das Medikament ab 1958 unter dem Handelsnamen Tofranil auf den Markt. Es war das erste trizyklische Antidepressivum der Welt, dem bis heute die meisten Antidepressiva ähneln. Hersteller setzen mit der Medikamentenfamilie heute jährlich zwanzig Milliarden Euro auf dem Weltmarkt um.“

  4. Glückskeks

    Die Vorfahren derjenigen, die sich selbst am glücklichsten schätzen, stammten in aller Regel aus Ländern, die auch heute noch durch ihren hohen Glücksindex auffallen. In protestantischen Ländern steht der Zufriedenheitspegel etwas höher als in katholischen und orthodoxen, trotz der berüchtigten Glücksscham bei Pietisten. Durchschnittlich am wenigsten glücklich fühlen sich nach allen Untersuchungen die Einwohner exkommunistischer Staaten.“

  5. Saigon

    Buddhisten nähmen Depression als Leiden wahr wie jeder andere auch, andererseits als ein Leiden unter vielen. Weil es ihr Weg sei, Leiden durch Meditation zu überwinden, würden sie Depression auch auf diese Weise behandeln. Die Ursache von Leid sei die Anhaftung an die Welt. So jedenfalls lehre es der Buddha. Genau genommen handele es sich nicht um Glauben, schließlich gäbe es in diesem System weder Gott noch Zwang und auch keinen Tausch von Gehorsam gegen ewiges Leben.“

Fazit

Das Buch ist männlich nüchtern, cool, eloquent, intelligent und

gleichzeitig sehr offen geschrieben. Auf jeden Fall ANDERS und alleine das macht es schon lesenswert, finde ich. Außerdem finden sich jede Menge Interna über ein Leben mit Depression, die ich noch in keinem anderen Buch gefunden habe und die für andere Betroffene sicher hilfreich sind. Das ist schon der zweite Grund. Und alle anderen deuten sich in den Zitaten oben an… also: lesen! 😉

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Foto: Pixabay

 

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