Psychotherapie: Vertrauen (1)

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

Tatsächlich?

Was ist denn eigentlich besser: Vertrauen oder Kontrolle?

Sylvia Wetzel* schreibt: „Ich halte Kontrolle in vielen Bereichen des Lebens für sinnvoll und nützlich, aber mit Vertrauen kommen wir weiter, denn Vertrauen reduziert Komplexität (…). Was hilft uns in Umbruchzeiten, wenn wir bemerken, dass wir das Leben nicht völlig in den Griff bekommen? Was kann uns Zuversicht schenken, wenn unser Vertrauen in uns, in andere oder in die Welt immer wieder erschüttert wird?

 

Paradoxien

Die paradoxe Antwort dieses Buches lautet: Gerade in Umbruchzeiten können wir besonders gut Vertrauen finden, auch wenn das nicht leicht ist. Wie kann das sein? In schwierigen Zeiten dämmert uns die – vermutlich auch schmerzhafte – Einsicht, dass wir unser Leben mit dem Verstand und technischen Mitteln nicht völlig kontrollieren können. Und erst (…) wenn wir nicht mehr so verbissen und verzweifelt an unseren Ansichten und Meinungen, an Erwartungen und Befürchtungen hängen, entdecken wir ein Vertrauen, das mehr weiß, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt. Krisen- und Veränderungszeiten sind nicht einfach, aber sie schenken uns die Chance, Kontrollwünsche und allzu feste Lebensstrategien zu hinterfragen und loszulassen. Dann haben wir die Chance, ein Vertrauen zu entdecken, das uns auch dann trägt, wenn alles zusammenbricht. Dieses Vertrauen gibt uns die Kraft und die Zuversicht, uns aufs Leben einzulassen, gerade weil wir wissen, dass wir es nie völlig in den Griff bekommen können. Vertrauen reduziert Komplexität, weil wir nicht mehr alles verstehen müssen, und zwar aus der tiefen Einsicht, dass wir das auch nicht können.

Es ist und bleibt paradox. Gerade dann, wenn das Vertrauen auf unsere eigenen Fähigkeiten und die der anderen erschüttert wird, können wir ein neues und tieferes Vertrauen ins Leben entdecken. Dabei können uns Gespräche mit vertrauten Menschen und das Interesse an neuen Wegen und der Mut, sie auszuprobieren, unterstützen.“

 

Definition

Was ist Vertrauen?

Wetzel schreibt: „Wenn wir uns selbst und anderen Menschen einigermaßen vertrauen, kommen wir ziemlich weit, und vermutlich leben wir dann ein einigermaßen gutes Leben. Wir wissen, dass wir in einem bestimmten Bereich mit unserem Tun etwas bewirken können, und fühlen uns ziemlich geborgen mit vertrauten Menschen. Das hilft uns, das alltägliche Auf und Ab zu verarbeiten und nicht zu verzweifeln, wenn Dinge schieflaufen oder wir in Konflikte mit anderen geraten.“

In Lebenskrisen wie schwerer Krankheit, Trennung und Tod, Jobverlust usw. kann es sein, dass auch eine zuversichtliche Grundhaltung, ein gutes soziales Netz und eine vertraute alltägliche Welt nicht wirklich tröstlich wirken und es zu einem Gefühl der Verzweiflung kommt. Wenn uns das Leben um die Ohren fliegt, erkennen wir, dass wir im Grunde wenig oder keine Kontrolle darüber haben und es nie ganz in den Griff bekommen werden, auch wenn wir alles „richtig“ machen.

Sylvia Wetzel dazu: „Wenn alle Stricke reißen und der Boden unter unseren Füßen ins Wanken gerät, brauchen wir Vertrauen ins Leben, dann brauchen wir das, was religiöse Menschen Gottvertrauen nennen. Letztlich ist es ziemlich gleichgültig, wie wir das, was uns dann trägt, bezeichnen.“

Vertrauen hat viele Facetten und entsprechend viele Bedeutungs-Zwischenstufen. Sprachliche Verwandte sind „sich trauen“, „zutrauen“ und „Traute haben“ im Sinne von Selbstvertrauen und Mut. Eine Grundbedeutung ist nach Wetzel „treu“, aber auch „fest und sicher sein, hoffen und glauben“ und „teuer, tapfer, fest“. Manche Sprachforscher sehen eine Verbindung zu Holz und Baum, wovon sich die Formulierung „fest wie Holz/wie ein Baum“ ableitet. Auch Begriffe wie „Trauung“ und „Angetraute/Angetrauter“ im Zusammenhang mit Heirat und Ehe erinnern an den nötigen Mut, um sich einer anderen Person „anzuvertrauen“.

 

3 Arten des Vertrauens

Sylvia Wetzel unterscheidet drei Arten des Vertrauens:

1. das Vertrauen in sich selbst,

2. das Vertrauen in andere und

3. das Vertrauen in das Leben.

 

Sie schreibt: „Die Wortfamilie von Vertrauen hat etwas mit Mut und mit Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten zu tun und der Hoffnung auf Sicherheit und der Hoffnung auf stabile Beziehungen zu anderen. Das deckt zwei der zentralen Dimensionen von Vertrauen ab: Selbstvertrauen und Vertrauen in andere. Die dritte Dimension – Vertrauen ins Leben oder Urvertrauen, religiöse Menschen nennen es Gottvertrauen – wird, hoffentlich, spürbar, wenn man im Laufe des Lebens schmerzhaft erlebt, dass Selbstvertrauen und Vertrauen in andere Menschen nicht ausreichen.

 

1. Selbstvertrauen

Aus Sicht der Entwicklungspsychologie steht das Selbstvertrauen am Ende einer gelungenen Kindheit. Die primären Bezugspersonen müssen dafür nicht perfekt sein. Es reicht, wenn sie „gut genug“ sind, wie es der Kinderarzt und Psychiater Donald Winnicott beschrieben hat. Unter ganz ungünstigen familiären Bedingungen reichen sogar ein oder zwei Erwachsene im Umfeld des Kindes, die ihm etwas zutrauen und es wohlwollend und unterstützend begleiten.

Darüber hinaus betont der buddhistische Psychologe John Welwood die Notwendigkeit des Freiraums zum eigenen Forschen. Ihm zufolge brauchen Kinder für die Entwicklung von Selbstvertrauen vor allem zwei Bedingungen: Beziehungen und Raum. Sie benötigen ausreichend Kontakt zu vertrauenswürdigen Menschen und genug Freiraum, um sich und die Welt selbständig zu erkunden. Kinder lernen Selbstvertrauen nicht primär durch Lob und bedingungslose Zuwendung, sondern durch das Erkunden der Welt mit dem eigenen Körper und den eigenen Sinnen.

Wenn das stimmt, dann lautet die Reihe: Urvertrauen, Vertrauen auf andere und schließlich Selbstvertrauen. Und das bleibt nur stabil, wenn wir auch die anderen beiden Arten von Vertrauen spüren und zulassen können.“

Auch erwachsene Menschen brauchen Kontakt zu anderen Menschen und äußere und innere Freiräume. Außerdem braucht Selbstvertrauen Lebenserfahrung. Diese gewinnen wir, „wenn wir einfache und komplexere Arbeitsabläufe planen und durchführen, allein und mit anderen.“ Für erwachsene Menschen steht das Selbstvertrauen meist im Zentrum der drei Vertrauensarten – gerade, wenn wir an uns und unseren Fähigkeiten zweifeln.

 

Reflexion: Selbstvertrauen durch Beziehungen und Freiräume

  • Welchen Menschen vertraust du (einigermaßen)?

  • Wem hast du in deiner Kindheit vertraut?

  • Welche Abläufe gibt es in deinem Alltag, die du selbst planst und durchführst?

  • Gibt es genügend solche Bereiche?

  • Wünschst du dir mehr davon?

  • In welchem Bereich?

 

2. Vertrauen in andere

Bei Kindern fördern zwei Bedingungen das Vertrauen in andere:

1. Vorbilder und

2. Gruppen, denen sie sich zugehörig fühlen.

Auch für Erwachsene spielen diese beiden Bedingungen eine wichtige Rolle.

 

Vorbilder

Vorbilder inspirieren uns, etwas Neues zu lernen, und sie ermutigen uns durch ihr bloßes Dasein.“ Sie müssen nicht perfekt sein. Der buddhistische Meditationslehrer Michael Hookham bringt das so auf den Punkt: „Wir können dann von jemandem etwas lernen, wenn das, was uns stört, uns nicht daran hindert, das zu lernen, was wir lernen können.“

Wir brauchen charismatische und vertrauenswürdige Menschen, die uns inspirieren. Sylvia Wetzel formuliert das wunderschön: „Vorbilder sind ein Geschenk des Himmels, denn sie können uns Mut machen, wenn unsere Zuversicht schwindet, und sie können uns ernüchtern und zur Räson bringen, wenn wir übermütig werden und unsere Fähigkeiten überschätzen.“

 

Übung: Vorbilder und inspirierende Menschen seit meiner Kindheit

  • Gehe rückwärts von heute in 5-Jahres-Schritten durch dein Leben. Denke an die Menschen, die dir ein Vorbild waren oder die dich inspiriert haben. Wenn du magst, mache dir Notizen dazu.

  • Was hat dich an der jeweiligen Person beeindruckt?

  • Welches Anliegen hast du mit ihr entdeckt?

  • Zu wem hast du heute noch Kontakt?

  • Wenn du deine Liste der Personen über dein Leben hinweg betrachtest: Gibt es ein verbindendes Element? Finden sich wiederkehrende Themen, bestimmte Werte oder Eigenschaften, die dich beflügeln?

  • Wie kannst du heute etwas davon in dein Leben einfließen lassen oder zum Ausdruck bringen?

 

Gruppen

Kinder entdecken durch Spielen und Lernen in Gruppen von Gleichaltrigen die Vielfalt menschlicher Möglichkeiten auf ihrem Niveau kennen. Da unterschiedliche Kinder unterschiedliche Ideen haben, wie man was spielen kann, lernen sie so unmittelbar, dass Menschen verschieden und dass diese Unterschiede etwas Wunderbares sind. In Gruppen, denen wir uns zugehörig und in denen wir uns wohlfühlen, erleben wir ebenfalls sinnlich und unmittelbar, dass wir Teil eines größeren Zusammenhangs sind, der uns auch helfen und schützen kann, wenn wir nicht weiterwissen oder wenn Gefahr droht. Wenn wir das als Kinder und Jugendliche lernen, sind wir als Erwachsene fähig und bereit, mit anderen zusammenzuarbeiten (…). Wir stärken eine Gruppe durch unseren Einsatz, erleben aber auch die anderen als stärkend und tragend.“

Gruppen können inhaltlich inspirieren und emotional verbinden sowie unsere Akzeptanz von Andersartigkeit fördern. Diese Fähigkeit entspricht nicht nur unserem demokratischen Grundverständnis, sondern hilft uns auch, widersprüchliche Seiten unserer eigenen Persönlichkeit besser zu erkennen, auszuhalten und zu integrieren. „Wenn wir das können, sind wir eher in der Lage, unseren eigenen Standpunkt auch gegen Widerstand zu vertreten, und das stärkt unser Selbstvertrauen.“

 

Übung: Wichtige Gruppen

  • Gehe rückwärts von heute in 5-Jahres-Schritten durch dein Leben. Denke an die Gruppen, die für dich wichtig waren und denen du dich zugehörig gefühlt hast.

  • Welche Anliegen habt ihr geteilt?

  • Zu wem hast du heute noch Kontakt?

  • Welchen Gruppen fühlst du dich derzeit zugehörig und welche Anliegen teilen diese Menschen?

  • Gibt es eine Gruppe, der du dich gerne anschließen würdest?

  • Könntest du selbst eine Gruppe gründen, mit der du ein bestimmtes Anliegen teilen möchtest?

 

Eine wichtige Rolle im Leben spielen Gruppen mit Menschen, mit denen wir wesentliche Anliegen teilen, z.B. das Geschlecht, die Kultur, die Religion, die Politik oder den Lebensstil.

Wetzel stellt folgende These auf:

Wir brauchen genügend Kontakt zu Menschen, mit denen wir wesentliche Anliegen teilen, damit wir uns mit Menschen verständigen können, die anders sind.

Und auch in diesen Gruppen sind Vorbilder wichtig, die uns durch ihr Leben zeigen, was möglich ist.“ Wir brauchen ohnehin in unserem ganzen Leben Vorbilder und Gruppen.

 

3. Vertrauen in das Leben

Die dritte Art des Vertrauens ist das Vertrauen in das Leben, in das, was größer ist als wir. Das werden wir nie ganz fassen können. Das Vertrauen in das Leben lässt sich letzten Endes auch nicht beweisen oder rational begründen. Wir brauchen es „vor allem dann, wenn wir mit uns und unseren Mitmenschen nicht besonders gut zurechtkommen oder uns um die politischen, sozialen und ökologischen Bedingungen und um die Zukunft unseres Planeten sorgen oder vielleicht sogar an politischem oder kulturellem Weltschmerz leiden.“ Vor allem verunsicherte Menschen mit wenig Selbstvertrauen und wenig Vertrauen in andere neigen zu einfachen Weltanschauungen und extremen Ideologien.

Das bedingungslose Vertrauen ins Leben trägt uns, wenn nicht besonders schwierige Umstände wie Krieg oder Gewalt das verhindern. Wir brauchen es das ganze Leben, um nicht an schwierigen Erfahrungen zu verzweifeln. Manche Menschen haben viel Urvertrauen oder Optimismus, manche haben weniger davon. Bei Kopfmenschen führt bisweilen die Erschütterung des Glaubens an die Macht der Vernunft zu einem Vertrauen in das Leben, und zwar mitten in der Krise. Sylvia Wetzel schreibt: „Wenn wir in Krisen unsere Ansichten hinterfragen, kann uns dämmern, dass wir das Leben nie völlig in den Griff bekommen können. Das kann uns erlösen vom Wissenmüssen.“ Und: „Tiefes Vertrauen ins Leben kann entstehen, wenn wir die Grenzen unseres Verstandes, die Grenzen von Wissen und Können ahnen und gleichzeitig über die unendliche Vielfalt der Welt staunen.“

 

          Reflexion: Staunen

  • Wann hast du das letzte Mal über das Wunder der Natur oder das Wunder des Lebens gestaunt? Über die unfassbare Schönheit einer Blume, eines Vogels oder eines Gedichts? Über den liebevollen Blick eines vertrauten Menschen, die Ästhetik eines Kunstwerkes oder die Wirkung eines Musikstückes?

     

     

    Reflexion: Krisenerfahrene Menschen

  • Welche Menschen haben dich im Laufe deines Lebens inspiriert, gerade weil sie es schwer hatten?

  • Welche Schriftstellerinnen oder Dichter, Musiker oder Politikerinnen machen dir gerade in schwierigen Zeiten Mut zum Leben?

 

Demnächst geht es weiter mit Überlegungen und praktischen Übungen zum Zusammenhang zwischen Vertrauen und Vertrautheit! 🙂

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zusammengefasst nach Sylvia Wetzel: Vertrauen. Finden, was mich wirklich trägt. München 2015

Foto: Pixabay

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