Sex ist die schönste Nebensache der Welt, heißt es. In privaten und beruflichen Gesprächen taucht er regelmäßig auf. Dabei entsteht allerdings eher der Eindruck, dass es sich um die am meisten missverstandene Sache der Welt handeln könnte. Ganz ehrlich: Ich bin regelmäßig konsterniert, was ich so von Frauen, Männern und Diversen zu hören bekomme. Und auch davon, was ich noch in mir für Gespenster herumgeistern sehe. Deshalb, und weil ich mich schon seit sehr langer Zeit auf den verschiedensten Ebenen mit dem Thema beschäftige, jetzt mal wieder ein Blog von mir darüber.
Ausgangspunkt der Überlegungen ist das gleichnamige Kapitel aus einem Buch* über Neo-Tantra, in dem es v.a. um die Heilung in der Liebe, mehr Freude im Leben und die Transformation von Sexualität geht. Der Autorin geht es um die Verbindung der Lust des Körpers, der Freude des Herzens und der Ekstase des Geistes. Sie definiert Tantra als eine alte östliche Wissenschaft von der spirituellen Erleuchtung; als einen mystischen Weg, der Sexualität als Tor zur Ekstase und Erleuchtung mit einbezieht.
Im ersten Teil des Buches stellt sie acht sexuelle Mythen in Frage, die Menschen bei der lustvollen Erforschung ihrer Sexualität behindern:
Sex dient der Zeugung
„Nach christlicher Auffassung dient Sex der Zeugung von Kindern und nicht der Lust. Dadurch wird die natürliche Freude und Leichtigkeit, die Sex uns schenken kann, durch Schuldgefühle vergiftet.“
Sex ist unanständig
„Dieses Verdammungsurteil beruht auf der Tradition westlicher Religionen, Körper und Geist zu trennen. Sex repräsentiert die Libido, den instinktiven Trieb, der nicht vom Willen kontrolliert werden kann und deswegen als gefährlich betrachtet wird. Selbst heute noch, nach der sogenannten sexuellen Revolution der sechziger Jahre, beeinflussen und lähmen diese Einstellungen unsere Gefühle zur Sexualität.“
Sex ist etwas Natürliches
„Ich glaube, dass der sexuelle Drang, wie wir ihn individuell erleben, nicht annähernd so ´natürlich` ist, wie es den Anschein hat. Er wird ständig durch kulturelle Konditionierungen beeinflusst. ´Blondinen bevorzugt`, ´große Brüste sind erotischer`, ´größere Penisse machen bessere Orgasmen` – das sind Glaubenshaltungen, die unsere sexuellen Verhaltensweisen beeinflussen. Meiner Ansicht nach ist der Ausdruck sexueller Energie natürlich und kulturell geprägt. Die Forschung hat zum Beispiel gezeigt, dass körperliche Empfindungen von uns spontan nicht so erlebt werden, wie sie wirklich sind, sondern vom Gehirn entsprechend früheren Erfahrungen, elterlichen Konditionierungen und allgemein verbreiteten Einstellungen interpretiert werden.“
Es gibt den richtigen Weg, sich zu lieben
„Nur allzu oft unterliegen Menschen – vor allem Frauen – dem Einfluss von ´Experten`, die anhand wissenschaftlicher Untersuchungen ´Normen` für den Liebesakt festlegen.
Der Koitus ist beim Sex das einzig Wichtige
„In unserer Kultur sind sämtliche sexuellen Aktivitäten auf den Koitus ausgerichtet. Sexueller Genuss ohne den Koitus wird als bloße Vorbereitung oder als unmoralisch und ungesund abgetan. (…) Die Folge ist, dass wir uns im Großen und Ganzen nach dem männlich orientierten Modell eines hitzigen, zielstrebig auf Koitus und Orgasmus ausgerichteten Lebensstils ausrichten, bei dem das sexuelle Zusammensein nur wenige Minuten dauert und abrupt endet.“
Sexuelle Erregung folgt einem festen Ablauf
„Viele Männer glauben, dass sie eine Frau lediglich ein paar Minuten lang küssen und Brust und Klitoris stimulieren müssen, damit sie dann sofort für den Liebesakt bereit ist. Ähnlich erwarten einige Frauen, dass der Mann innerhalb weniger Minuten mit der stolzen Erektion eines ´Herrn Allzeit-Bereit´ reagiert, wenn sie seinen Penis küssen und streicheln. Sexualität wird so auf wenige ´heiße` Zonen beschränkt, die in einer bestimmten Reihenfolge stimuliert werden.“
Sexuelle Lust ist vom Partner abhängig
„“Der Glaube, von einem Partner abhängig zu sein, der für Ihre sexuelle Lust verantwortlich ist, ist ebenfalls ein weit verbreiteter Mythos. Er beruht darauf, dass nicht Sie die Quelle für Ihre Lust sind, sondern Ihr sexueller Genuss davon abhängt, was Ihr Liebster oder Ihre Geliebte mit Ihnen anstellt.“
Beim Mann sind Orgasmus und Ejakulation identisch
„Solange der Orgasmus mit Ejakulation gleichgesetzt wird, ist der Mann immer der zu kurz Gekommene, weil er zu kurz ´kommt` – meistens vier bis zehn Sekunden lang. Viele glauben, dass das Ziel des Liebesspiels in einer möglichst intensiven Entladung sexueller Spannung besteht – besonders Männer, denen man beigebracht hat, dass Sex ohne Ejakulation nichts wert ist. Durch (…) Training (…) kann der Mann allmählich lernen, seinen Ejakulationsdrang zu kontrollieren, so dass er den Zeitpunkt des Samenergusses selbst bestimmen kann, statt ihn als unwillkürlichen Spasmus zu erfahren. (…) das versetzt den Mann in die Lage, das Liebesspiel mit seiner Partnerin praktisch unbegrenzt zu verlängern. Es ist für einen Mann möglich, ohne Samenerguss Orgasmen zu erleben, die von kräftigen genitalen Vibrationen bis zu feinsinnigen Strömungsempfindungen im ganzen Körper reichen.“
Ganz im Gegensatz zu diesen – immer noch – allgemein verbreiteten Mythen vertritt Margot Anand den von ihr entwickelten Ansatz des „Hohen Sex“.
Dieser soll Menschen:
neue Einstellungen zur erotischen Erfahrung zeigen und ihnen beibringen, Sex als ein Fest, einen Schöpfungsakt und eine Kunst zu achten,
beibringen, wie sie körperliche Reaktionen beim Liebesspiel umwandeln und neu gestalten können; er zeigt neue Vorgehensweisen, steigert das Empfindungsvermögen und vergrößert das Spektrum an sinnlichen Möglichkeiten, ohne dabei die Spontaneität zu behindern,
vermitteln, dass es keine richtige oder falsche Art gibt, sich zu lieben und keinen richtigen und falschen Orgasmus, sondern lediglich falsche Einstellungen zur Sexualität,
die Kunst einer erweiterten, höchst verfeinerten Erotik lehren und dabei eine zärtlichere, weiblichere Perspektive der Sexualität vermitteln,
zeigen, dass die Vorbereitung auf das Liebesspiel nicht lediglich eine Frage körperlicher Stimulierung ist, sondern einer feinfühligen, harmonischen Einstimmung zwischen den beiden Liebenden, was Vertrauen, Offenheit, Kreativität und viele andere geistige, emotionale und spirituelle Qualitäten erfordert,
beibringen, dass sie selbst für ihre sexuelle Lust verantwortlich sind und dass diese Erkenntnis der erste Schritt ist, „die Kunst sexueller Ekstase zu erlernen“,
auffordern, stereotype Vorstellungen aufzugeben, die sie in ihrer Sexualität behindern und statt dessen Vorgehensweisen erproben, mit deren Hilfe sie ihre üblichen Grenzen weit hinter sich lassen können.
Soweit Margot Anand mit ihrem neotantrischen Ansatz. Was hat das nun mit der Praxis EINKLANG-HARBURG zu tun? Nun, ich bin weder Tantrikerin noch Paarberaterin noch Sexualtherapeutin. Dennoch stelle ich in meinen Einzelberatungen, Gruppenseminaren und Psychotherapien immer wieder fest, dass alte Glaubenssätze bei allen Menschen ein Thema sind. Das kommt mal mehr, mal weniger direkt zum Ausdruck und ist doch die Grundlage für vieles, was im Leben und in Beziehungen gut oder eben nicht so gut läuft. Wenn ich von Glaubenssätzen spreche, meine ich damit nicht zuletzt solche, die Körperlichkeit und Sexualität als ganz wesentliche Aspekte der menschlichen Persönlichkeit betreffen. Das ist mein grundlegender Ansatz – nicht nur in meiner psychotherapeutischen Arbeit, sondern auch in den Bereichen Achtsamkeit, Meditation und Entspannung.
Das Thema Sexualität und die betreffenden Mythen kommen – besonders im psychologischen Kontext, aber nicht nur – regelmäßig zur Sprache, doch immer recht verhalten und verschämt, auch bei jungen Menschen. Ebenfalls im Kontext Aufklärungsunterricht in meiner sonderpädagogischen Arbeit in der Schule habe ich viel mehr Ängste, Hemmungen, Unsicherheiten und Widerstände erlebt als Freude, Neugier und Offenheit. Bei meiner ehrenamtlichen Tätigkeit in einer öffentlichen Beratungsstelle waren sexuelle Mythen und hemmende Glaubenssätze regelmäßige Gesprächsthemen. Allerdings fast ausschließlich in der telefonischen, nicht in der persönlichen Beratung. Selbst im kollegialen Austausch wurde immer wieder deutlich, welche ausgeprägten Befangenheiten in Bezug auf das Thema Sex – allgemein und in Beratungen – existierten und wie schnell ein deutliches Unwohlsein auftrat. Da war mir meine jahrzehntelange sonderpädagogische Erfahrung im sozialen Brennpunkt sicher eine größere Hilfe, als ich bis dahin für mich klar hatte. Dennoch, um ein komplexes Thema nur grob zu skizzieren, ist unsere moderne Gesellschaft mitnichten so aufgeklärt und locker unterwegs, wie es scheinen mag. Manchmal scheint es sogar im Gegenteil so zu sein, dass junge Menschen zwar nicht mehr so repressiv wie z.B. ich aufwachsen, aber vor lauter Sex um sich herum überhaupt nicht wissen, was real und was medial ist, was (für sie) geht und was nicht und wo überhaupt oben und unten ist. Ich nehme da eine riesige Orientierungslosigkeit und Verunsicherung wahr und bin tief bestürzt, was mir besonders Frauen im geschützten Rahmen berichten von dem Gefühl, unter Druck zu stehen, von sexueller Unlust, Krämpfen, Anorgasmie usw.
Worauf will ich hinaus? Auch wenn ich keine explizite Sexualtherapie anbiete, ist das Thema Sexualität in meinen Beratungen alles andere als ein Tabu. Vielmehr ist es für mich in den Jahrzehnten, die ich mich mit den Themen Persönlichkeitsentwicklung in Theorie und Praxis beschäftige, immer integraler Bestandteil des Ganzen gewesen. Das ist für mich ein so wesentlicher Teil des Lebens und meiner Ausbildung, dass ich bisher nicht explizit darauf hingewiesen habe. Nun ist mir klargeworden, dass ein deutlicher Hinweis zu mehr Transparenz führen und Unsicherheiten entgegenwirken kann. Ich bitte allerdings um Verständnis, dass ich mich in diesem Kontext vorwiegend an Frauen wende.
Herzliche Einladung:
Wenn du als Frau mit deinem Körper, deinem Frau-Sein und deiner Sinnlichkeit haderst oder immer wieder an eine bestimmte Grenze stößt und nicht darüber hinauskommst, melde dich gerne bei mir. Normalerweise biete ich telefonische Beratungen nur an, wenn wir uns bereits persönlich kennengelernt haben. In diesem Punkt würde ich aber eine Ausnahme machen, falls du es sonst nicht über die Hemmschwelle schaffst und dich erst einmal vorsichtig an das Thema und meine Arbeitsweise herantasten möchtest. Melde dich einfach per Kontaktformular, Email oder Telefon bei mir und wir besprechen alles Weitere. Sei mutig und pack den Stier bei den Hörnern!
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*Margot Anand: Tantra oder Die Kunst der sexuellen Exstase München 1989
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