Was ist Achtsamkeit?

Neulich lernte ich beim Kaffee mit einem Netzwerk-Kollegen seinen Bekannten kennen und wurde ihm als Achtsamkeits-Lehrerin vorgestellt. Daraufhin fragte er prompt: „Was ist Achtsamkeit?“.

Ja, was ist Achtsamkeit? Ein Begriff, der für mich mittlerweile ganz selbstverständlich geworden ist, wie ich merkte. Gleichzeitig stellte ich verblüfft fest, dass es gar nicht so leicht ist, den ebenso kurz und knackig wie erschöpfend zu definieren. Im Prinzip geht es immer um den gleichen Kern: Das Präsent-Sein im Hier und Jetzt, in dem jeweiligen Moment und dem konkreten Raum mit den jeweiligen Personen, falls anwesend. Es geht darum, wirklich DA zu sein, in der Gegenwart, ohne sich in Gedanken an Vergangenes und/oder Zukünftiges zu verstricken. Du wirst vielleicht denken, dass das doch eigentlich selbstverständlich ist!? Tatsächlich? Achte mal drauf und du wirst überrascht sein, wie oft das eben nicht der Fall ist!

Im Folgenden konfrontiere ich dich einfach mal mit einem Potpourri verschiedenster Gedanken und Zitate zum Thema. Lies und sieh selbst!

Der Psychologe und Psychotherapeut Andreas Dick1 schreibt: „Wenn man sich in einer existenziellen Krise befindet und nicht mehr weiterweiß, dann kann dies mit Erfahrungen einhergehen, wie sie hier beschrieben wurden. Solche Erfahrungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich willentlich kaum oder gar nicht beeinflussen lassen, was meist zu Hilflosigkeit oder Hoffnungslosigkeit führt. Doch wenn sich etwas nicht ändern oder beeinflussen lässt, dann lässt es sich trotzdem immer akzeptieren oder ablehnen. So steht es uns frei, unangenehme und leidvolle Dinge zu verdrängen, uns dafür zu bemitleiden, andere dafür verantwortlich zu machen und ihnen zu grollen, Gott für seine Ungerechtigkeit anzuklagen und das Vertrauen ins Leben zu verlieren. Wir können aber auch durch den Mut zur Akzeptanz unseren freien Willen dafür benutzen, diese Dinge anzunehmen, uns mit ihnen auseinanderzusetzen, sie in einem neuen licht zu betrachten, anderen Menschen zu vergeben und sich mit Gott und dem Leben wieder zu versöhnen. Ob wir etwas akzeptieren wollen oder nicht, hängt allein von unserem eigenen freien Willensentschluss ab. (…) Achtsamkeit besitzt drei Komponenten: Erstens geht es darum, mit der Aufmerksamkeit ganz in der Gegenwart zu bleiben und sich nur darauf zu konzentrieren, was tatsächlich ist. Zweitens bedeutet Achtsamkeit eine nicht-wertende Akzeptanz. Und drittens ist Achtsamkeit frei von jeglichem Tun-Müssen. Unsere erste Reaktion auf negative Gefühle oder störende Gedanken ist meist der Versuch, diese irgendwie „in den Griff“ zu bekommen, sie zu bewerten, zu analysieren und zu kontrollieren. In einer achtsamen Haltung verzichten wir darauf und erlauben uns stattdessen, störende innere Reaktionen einfach offen und wohlwollend wahrzunehmen, ohne sie irgendwie verändern zu wollen. Das bezieht sich auf alle möglichen inneren Reaktionen, sowohl auf diejenigen, die man mag, als auch auf diejenigen, die man lieber los sein möchte. Es geht einfach nur darum, diesen Gedanken und Gefühlen zu erlauben, da zu sein und so zu sein, wie sie sind. Wenn wir achtsam sind, dann verankern wir unsere Wahrnehmung ganz im Hier und Jetzt und verzichten darauf, uns in Gedanken über Vergangenes oder Zukünftiges zu verlieren. Überhaupt verzichten wir in einer achtsamen Haltung auf jegliches Nachdenken über etwas, und geben uns stattdessen der Sache selbst ganz hin, nehmen sie wahr und spüren ihre Beschaffenheit. Indem wir uns ganz auf die Wahrnehmung der Sache selbst konzentrieren, halten wir jeden Moment die Verbindung zum gegenwärtigen Augenblick aufrecht. Das ist oft sehr schwer, weil wir gewohnt sind, ständig unseren Verstand dazu zu benutzen, Pläne zu schmieden, Lösungen zu suchen, Alternativen abzuwägen, zu beurteilen und zu analysieren, doch in der Achtsamkeit fällt all dies weg.“

Es geht also auch um so etwas wie Nicht-Identifikation: Eine stille Beobachterin meiner Erfahrungen zu sein; Dinge so akzeptieren, wie sie sind und sie weniger persönlich nehmen, eine Zeugin ohne Bewertung zu sein. Und um Mitgefühl, Selbstakzeptanz, Selbstliebe, Selbstfürsorge. Mitgefühl schafft Raum für Versagen, Enttäuschung und fehlende Perfektion. In der Folge fühlen wir uns genährt, gehalten und sicher. Es geht um Fühlen: die Freude, die Dankbarkeit, das Schöne, das Überraschende, das Überwältigende, den Widerstand, die Scham, die Verzweiflung, die Müdigkeit usw.

Es geht darum, das alles zu fühlen ohne Bewertung in gut oder schlecht und ohne es persönlich nehmen: Was fühlst du jetzt, in genau diesem Moment? Ist es möglich, einen Schritt zurück zu treten und einfach nur zu beobachten, was du fühlst?

Kristin Neff2 konkretisiert das: „Wir alle haben die angeborene Fähigkeit, unser eigenes Feld des Gewahrseins bewusst wahrzunehmen. Folglich sind wir auch alle fähig, Achtsamkeit zu praktizieren. In den meisten Fällen geht es einfach darum, sich bewusst dafür zu entscheiden, die eigene Aufmerksamkeit freundlich und vorurteilsfrei auf Gedanken, Emotionen und Empfindungen zu lenken, die im gegenwärtigen Moment in unserem Inneren aufsteigen.“

Shamash Alidina3 schreibt: „Achtsamkeit bedeutet bewusste Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt verbunden mit Eigenschaften wie Mitgefühl, Neugier und Akzeptanz. Wenn Sie achtsam sind, können Sie entdecken, wie Sie angenehm im gegenwärtigen Augenblick leben, anstatt sich über Vergangenes den Kopf zu zerbrechen oder sich wegen der Zukunft zu sorgen. Denn letztlich ist der gegenwärtige Augenblick der einzige Augenblick, den wir haben.“ Und zum Thema Akzeptanz: „Akzeptieren ist nicht gleich resignieren – Sie stellen sich ja dem Problem, anstatt davor wegzurennen. Achtsam sein bedeutet, aufmerksam zu beobachten und zu akzeptieren, was man vorfindet. Auf der Basis dieser achtsamen Akzeptanz können Veränderungen eingeleitet werden. Das ist etwas anderes, als sich mit einer Situation abzufinden, die sich nie ändern wird.“

Akzeptieren ist dabei etwas völlig anderes als fatalistisches Hinnehmen. Im Gegensatz zu einer passiven Opferhaltung bedeutet Akzeptanz, eine Situation ganz bewusst, aktiv und wach anzunehmen. Und zwar so, wie sie ist, und gleichzeitig den eigenen Handlungsspielraum darin erkennen. Es ist also nicht alles starr und fest, sondern es gibt noch eine Menge Spiel.

Achtsamkeit ist unter anderem die Fähigkeit, eine Erfahrung mit den fünf Sinnen (Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken, Riechen) und der Intuition, dem inneren Wissen, in genau diesem Moment zu beobachten. Auf diese Weise mit einer stressbehafteten Aufgabe und den damit verbundenen Gefühlen umzugehen, kann etwas Wunderbares bewirken: gestaute Energie wird frei, die Gedanken beruhigen sich, du kannst dich innerlich lösen und es entsteht eine neue Offenheit. Dies kann dazu führen, dass drei wichtige Dinge passieren, die im Kleinen dein Leben verändern

1. Die Last auf deinen Schultern wird leichter und du wuppst die unangenehme Aufgabe mit weniger Mühe,

2. du schaffst einen kraftvollen Welleneffekt, der dir eine ähnliche zukünftige Situation erleichter und

3. steigst du aus dem Teufelskreis von Angst und Widerstand aus. Der macht dir nämlich den ganzen Stress und macht einen Großteil des Päckchens aus, das du mit dir rumschleppst.

Das Üben von Achtsamkeit ist wie das Aufbauen von Muskeln in Richtung mehr Klarheit, Leichtigkeit und Weite. Da wir es leicht übersehen, wenn wir eine Schwierigkeit oder ein Problem NICHT mehr haben, ist es not-wendig, offen zu sein und uns selbst neugierig und geduldig dabei zuzusehen, wie sich die Zwiebelschalen des alten Selbst zunehmend lösen und für etwas Neues, Frisches Platz machen.

Mini-Achtsamkeits-Übung:

Hör für einen Moment auf zu lesen und löse deine Augen von dem Bildschirm. Schau dich in deiner Umgebung um. Wo gibt es etwas Schönes, das deine Aufmerksamkeit auf sich zieht? Das kann alles sein: ein interessanter Lichtreflex, das Singen eines Vogels, der Dampf, der sich über deinem Kaffeebecher kräuselt… Erlaube deinem Bewusstsein, für eine Minute bei allen Details zu verweilen: Form, Farbe, Stofflichkeit, Töne, Geschmack, Gewicht usw.

Verändert deine Aufmerksamkeit das, was du siehst oder hörst?

Verändert deine Aufmerksamkeit deine Gefühlslage/Stimmung?

Wie fühlst du dich jetzt?

Übrigens ist dies auch eine hilfreiche Übung auch bei Aufregung, Angst und Lampenfieber!

Patrizia Collard4 schreibt: „Durch Achtsamkeit kommen wir auf all die Bereiche unseres Lebens zurück, in denen es noch an Ruhe und Frieden mangelt. Achtsamkeit lehrt uns außerdem, meditative Übungen geduldig zu wiederholen und immer wieder von vorn zu beginnen, auch wenn wir vorübergehend die Orientierung verlieren.“

Ursula Nuber5 führt aus: „´Richtiges`Nichtstun bedeutet nicht, für eine mehr oder weniger lange Zeitspanne Abstand zum hektischen Tun zu finden, nur um dann noch besser, noch produktiver wieder loslegen zu können. Es bedeutet vielmehr, sich regelmäßig Auszeiten von der Fremdbestimmung zu nehmen und einen Freiraum zu kreieren, in dem man sich selbst begegnen kann: den auf der Strecke gebliebenen Wünschen, dem bislang Ungelebten, den verdrängten `Neins´ . Wenn man lernt, regelmäßig nichts zu tun und einfach still zu sitzen, kommt man dem eigenen Wollen auf die Spur.“

Maren Schneider6 drückt es ein wenig idealistisch aus, macht aber die Richtung deutlich: „Achtsamkeit bedeutet präsent und wach zu sein. Jeden Moment und alles, was passiert, ganz bewusst und offen wahrzunehmen. Achtsamkeit fördert innere Gelassenheit, geistige Zentriertheit und die Fähigkeit, pragmatisch und richtig zu handeln, wenn dies notwendig ist. Achtsamkeit stärkt außerdem die neutrale Beobachtungsfähigkeit. Wer achtsam ist, hört damit auf, Menschen, Lebenssituationen oder gewisse Umstände reflexartig zu bewerten, legt negative Gewohnheiten ab, wird ruhiger, zentrierter und gelassener, verhält sich angemessen und authentisch und kann wieder heil werden.“

Die Wirkung von Achtsamkeit und Mediation

Zur Wirkung führt sie aus: „Da die Meditation Gegenstand der Forschung ist, weiß man heute recht gut, wie und warum sie wirkt. Das schafft allgemeine Akzeptanz. Die Achtsamkeitsmeditation (…) hat direkte Auswirkungen auf das Gehirn und seine Arbeitsweise. Sie beeinflusst die Stressempfindung, das Immunsystem und alles, was damit zusammenhängt. Inzwischen sind viele Studien veröffentlicht worden, die sich mit der ganzheitlichen Auswirkung der Achtsamkeitsmeditation befassen. Diese zeigen eindrücklich, dass sich durch regelmäßige Achtsamkeitsmeditation folgende Veränderungen einstellen:

  • die Konzentration verbessert sich,

  • das Immunsystem regeneriert sich,

  • mehr Gelassenheit und Ausgeglichenheit,

  • konstruktiver Umgang mit belastenden Emotionen,

  • Angst, Niedergeschlagenheit und depressive Phasen nehmen ab,

  • Umgang mit Schmerzen verbessert sich,

  • Schmerzmittelkonsum nimmt ab,

  • der Blutdruck normalisiert sich,

  • Reduktion von Magen-Darm-Problemen,

  • Besserung des subjektiven Empfindens,

  • die Lebensqualität nimmt zu,

  • erhöhte Resilienz,

  • konstruktiver Umgang mit Gedanken.“

In einem anderen Buch schreibt Maren Schneider7: „Achtsamkeit bedeutet, bewusst mit dem gegenwärtigen Moment im Kontakt zu sein, weder in die Zukunft noch in die Vergangenheit abzuschweifen, weder zu dramatisieren noch zu ignorieren, sondern unsere Aufmerksamkeit im sogenannten „Jetzt“ ganz zu bündeln. Das heißt, wir üben uns darin, bewusst und wertneutral wahrzunehmen, was im gegenwärtigen Moment gerade geschieht, auf der Ebene unseres Körpers (Empfindungen der Wärme/Kälte, Spannung/Entspannung, Schmerz/Schmerzfreiheit, Kraft/Schwäche), unseres Geistes (Gedankenaktivität, viele/wenige Gedanken, Stimmung, emotionale Zustände), aber auch bezogen auf die Geschehnisse in unserem Umfeld und wie wir dazu in Resonanz gehen.“

Die Achtsamkeitsmeditation „bietet uns einen Rahmen in dem wir uns mit unseren geistigen Vorgängen (Gedanken, Grübeleien, Träumen, Plänen und den daraus resultierenden emotionalen Reaktionen) vertraut machen und lernen, auf heilsame Art und Weise damit umzugehen, ohne in ihnen zu schwelgen oder dem Nachdenken bzw. Grübeln anheimzufallen. Stattdessen können wir beobachten, wie diese geistigen Vorgänge uns von gegenwärtigen Moment ablenken, und lernen, unsere Aufmerksamkeit wieder zurück ins Hier und Jetzt zu bringen und so wirklich anwesend und präsent in unserem Leben zu sein – unser Leben wirklich (er-)leben.“

Achtsamkeit im Alltag

Im Alltag kann Achtsamkeit z.B. bedeuten:

– wenn du jemanden triffst – dich vollkommen und ganz bewusst auf diese Person einlassen, sie wirklich anschauen, ihr wirklich zuhören usw.

– bewusst und mit allen Sinnen essen und dich nicht plötzlich angesichts des leeren Tellers vor dir fragen, wer das gegessen hat

– für ein paar Minuten am Tag oder bei einer bestimmten Tätigkeit alles, was du tust, so zu beobachten und wahrzunehmen, als wäre es das allererste Mal. Das nennt man den „Anfängergeist“.

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1Andreas Dick: Mut. Über sich hinauswachsen. Bern 2010

2Kristin Neff: Selbstmitgefühl, München 2011

3Shamash Alidina: So leicht geht Achtsamkeit für Dummies. München 2015

4Patrizia Collard: Sei achtsam mit dir. München 2017

5Ursula Nuber: Eigensinn. Frankfurt a.M. 2016

6Maren Schneider: Heilende Meditationen. München 2017

7Maren Schneider: Ein Kurs in Selbstmitgefühl. München 2016

Foto: Pixabay

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