Depressionen verstehen und bewältigen

An dieser Stelle habe ich schon Bücher über Depressionen besprochen. Da das Thema aber so vielfältig ist und die Ansätze dazu auch, stelle ich heute ein weiteres Fachbuch dazu vor:

 

Manfred Wolfersdorf:

Depressionen verstehen und bewältigen.

Heidelberg, 4. Auflage 2011

Der Klappentext

Die Depression ist keine ausweglose Erkrankung – Hilfe und Heilung sind möglich. Manfred Wolfersdorf hat in diesem Buch aufgeschrieben, was er im Laufe der Arbeit mit Depressionskranken als wichtig und hilfreich erfahren hat. Anhand von Beispielen macht er das depressive Erleben nachfühlbar und erklärt, welche Ursachen für die Krankheit man heute kennt. Ausführlich geht er auf die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten und die Wirkungen der Antidepressiva ein. Ganz praktisch wird berichtet, welche Fehler Ärzte und Patienten im Umgang mit der Krankheit machen, aber nicht machen sollten, wann es sinnvoll ist, den Arbeitgeber zu informieren und was Angehörige und Freunde zur Unterstützung tun können.

 

Der Autor

Prof. Dr. med. M. Wolfersdorf ist Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und psychotherapeutische Medizin. Er war Mitbegründer der ersten Depressionsstation Deutschlands in einer Psychiatrie Mitte der 1970er Jahre. Wolfersdorf ist als Professor für Psychiatrie an den Universitäten Ulm und Bayreuth tätig. Er leitet als Ärztlicher Direktor das Bezirkskrankenhaus Bayreuth und als Chefarzt die dortige Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Er hat zahlreiche Artikel und Bücher zu den Themen Depression und Suizid veröffentlicht.

 

Das Buch

Das Fachbuch ist in 17 Kapitel unterteilt:

1. Kapitel

Das erste Kapitel ist eine Einführung in die Depression als seelische Krankheit. Dabei steigt der Autor mit einem interessanten Gedanken ein: „Bis heute ist umstritten, ob psychische Krankheiten und psychische Störungen einfach Abweichungen, sozusagen ´etwas mehr` von z.B. Traurigkeit sind oder ob es einen qualitativen Sprung gibt, der normales psychisches Erleben von psychischer Krankheit trennt. In der Tat scheint es Übergangsformen von der Trauer über die Depressivität bis zur schweren Depression zu geben.“ Und er betont: „Eine Depression umfasst, beeinträchtigt, ja bedroht den gesamten Menschen in seinem körperlichen Empfinden, seinem Denken, seiner Gestimmtheit, in seinen Gefühlen, in seinen Bezügen zur eigenen Person, zum aktuellen Umfeld, zur eigenen Vergangenheit und Zukunft.“

Er zeigt auf, dass sich die Depression deutlich von einem allen Menschen bekannten Trauerprozess unterscheidet, da es sich um einen Zustand von Nicht-traurig-sein-Können und Nicht-Trauer handelt. In „der tiefen Depression steht die Freudlosigkeit, die Unfähigkeit überhaupt Gefühle empfinden zu können, im Vordergrund. (…) Es scheint, dass Trauer etwas Zielgerichtetes ist, einmal in Bezug auf den Verstorbenen, zum anderen aber auch im Sinne einer Entwicklung in eine neue Zukunft hinein, weg vom Verstorbenen, während Depressivität apathisch, antriebslos, innerlich erstarrt auf der Stelle verharren lässt.“

2. Kapitel

Im zweiten Kapitel wird depressives Kranksein anhand von Selbstschilderungen im Sinne von: „Wie es mir geht, wenn es mir schlecht geht“, veranschaulicht. Wolfersdorf nähert sich dem Verständnis depressiven Krankseins so auf zwei Wegen: einerseits lässt er die betroffenen selbst sprechen und stellt andererseits die Symptome aus ärztlicher Sicht dar.

3. Kapitel

Das dritte Kapitel widmet sich vier Bereichen, die bei der Depression betroffen sind: Fühlen (Herabgestimmtheit, Angst, Scham, Schuldgefühle), Denken (Grübeln, Sorgen), vegetative Symptome (u.a. Schlaf- und Appetitlosigkeit) sowie Antrieb und Psychomotorik (globale Antriebslosigkeit und psychomotorische Hemmung). Der Autor macht zu Beginn klar, dass depressiv erkrankte Menschen zwar unter vielfältigen Beschwerden leiden, aber dennoch häufig nicht den Eindruck eines kranken Menschen machen und so häufig falsch verstanden und eingeschätzt werden. Wolfersdorf zeigt auch auf, welche Symptome überlicherweise nicht zur Depression gehören, wie z.B. Bewusstseinstrübung und Desorientierung. Auch weist er auf das zentrale Thema depressiver Menschen hin: das Nicht-Können, die Kluft zwischen Sollen und Können.

4. Kapitel

Im vierten Kapitel beantwortet Wolfersdorf die Frage, wann man an eine Depression denken muss. Es findet sich eine Tabelle mit Beschwerden, die auf eine Depression hinweisen und der Hinweis, dass sich die meisten depressiven Erkrankungen nicht über Nacht, sondern über Wochen und Monate hinweg entwickeln. Meist geschieht dies mit einem so genannten vegetativen Auftakt wie z.B. Schlaf- und Appetitstörungen. Wolfersdorf fügt auch einige Fragen zur Selbsteinschätzung hinzu, wobei er fünf Leitfragen herausstellt. „Es kann wichtig sein, sich solche Fragen zu stellen, noch wichtiger aber wird es dann, die Konsequenzen zu ziehen und sich an seinen jeweiligen Arzt, Psychiater oder Psychotherapeuten zu wenden.“

5. Kapitel

Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit Ursachen und Auslösern einer Depression. Der Autor macht deutlich, dass die Depression ein multifaktorielles Geschehen ist. Das heißt, dass viele Bedingungen an der Entstehung und Aufrechterhaltung einer depressiven Erkrankung beteiligt sind. Er bespricht genetische, psychologische und biologische Faktoren. Zur Auslösung der Depression schreibt er: „Es sind Veränderungen im Leben, Störungen des gewohnten Ordnungssystems, Entwicklungsanforderungen die zu leisten sind und Neuorientierung erzwingen, auf die zur Depressivität neigende Menschen mit depressiver Symptomatik, d.h. der Auslösung einer voll ausgeprägten Depression reagieren.“

6. Kapitel

Im sechsten Kapitel beschäftigt sich der Autor mit den verschiedenen Depressionsformen. Er unterscheidet vier Kategorien:

  • unipolare endogene Depressionen und manisch-depressive (bipolare)

    Erkrankungen,

  • psychogene Depressionen (reaktive und neurotische Depressionen sowie

    depressive Entwicklungen – Erschöpfungsdepressionen),

  • somatogene, also körperlich begründbare, Depressionen (organische und

    symptomatische) und

  • Depressionen in besonderen Lebenslagen (klimakterische Depression,

    Wochenbettdepression, Altersdepression, Depression im Kindes- und

    Jugendalter, Depression bei Schizophrenie und sekundäre Depressionen, die

    bei allen anderen psychischen und körperlichen Erkrankungen auftreten

    können).

7. Kapitel

Das siebte Kapitel steht unter der Fragestellung, ob Depressionen behandelbar sind. Behandelte Unterpunkte sind dabei:

  • Wann ist jemand behandlungsbedürftig?

  • Was ist Heilung bei der Depression?

  • Was hilft?

  • Therapieformen: biologisch-körperbezogen, psychotherapeutisch,

    psychoedukativ und soziotherapeutisch.

Wolfersdorf verweist auf die Fortschritte in der Depressionsbehandlung, führt Symptome auf, bei deren Auftreten eine ärztliche Behandlung nötig ist und betont, dass depressiv Kranken geholfen werden kann. Heilung kann dabei auch „Leben mit der Erkrankung“ heißen, also „sich Einrichten auf die Erkrankung, Umgehenlernen mit sich selbst als Mensch, der zu depressiven Erkrankungen neigt.“ Er listet auf, was eine Therapie erreichen soll, z.B. Symptombesserung und Wiederherstellung der Arbeits-, Lebens- und Beziehungsfähigkeit.

8. Kapitel

Im achten Buchkapitel geht es um Medikamente in der Depressionsbehandlung. Wolfersdorf bespricht in diesem Zusammenhang Antidepressiva, Tranquilizer und Schlafmittel, Neuroleptika und die Prophylaxe von Wiedererkrankungen mit Antidepressiva, Lithium, Valproinsäure und Carbamazepin. Er beschreibt die Ziele der medikamentösen Therapie, die Anwendungsbereiche und die Nebenwirkungen der jeweiligen Medikamente.

9. Kapitel

Das neunte Kapitel beschäftigt sich mit Psychotherapie und dem Phänomen, dass Reden hilft. Der Autor listet Leitsätze für die erfolgreiche Gestaltung eines hilfreichen Gesprächs und psychotherapeutisch orientierte Grundregeln zum Umgang mit depressiven Menschen auf. Dazu gehören Punkte wie emotionale Nähe und akzeptierende Wertschätzung, bedingungsfreies aktives Zuhören oder beruhigende Versicherung und Stützung. Zudem äußert er sich zu methodischer Psychotherapie in Form von tiefenpsychologisch fundierter Therapie, kognitiver Verhaltenstherapie und interpersoneller Psychotherapie.

10. Kapitel

Im zehnten Buchkapitel beschreibt der Psychiater Fehler, die man als Arzt oder als erkrankte Person machen kann. Er listet hier diverse Punkte eines therapeutischen Fehlverhaltens wie z.B. mangelnde Einfühlung und unterkühlte Distanziertheit, überzogene Naturwissenschaftlichkeit, diskutierendes Argumentieren oder das Geben von Ratschlägen auf. Als „Fehler“, die Depressive machen, schreibt Wolfersdorf v.a. über die Aspekte Zeit und Geduld: „Eine der wichtigsten Anforderungen, die doch so schwer einlösbar ist, ist das ´Mit-sich-selbst-Geduld-haben` und das ´Sich-Zeit-Nehmen`. (…) Es fällt depressiv Kranken außerordentlich schwer zu akzeptieren, dass sie ´ihre eigene Zeit der Depression´brauchen, denn jeder Tag, der in der Depression verrinnt, wird als verlorener Tag gewertet. Sich zu wenig Zeit lassen und zu wenig Geduld mit sich selbst zu haben, ist einer der größten Fehler, die Depressive sich selbst gegenüber machen.“ Als einen weiteren Fehler ist der häufig geäußerte Wunsch, wieder so wie vorher sein zu wollen. Der Arzt weist darauf hin, dass kein depressiver Mensch wieder wie vorher wird. Ziel könne es nur sein, eine neue Person zu werden, die mit der Störung umgehen kann, der es besser geht und die um ihre Belastungsfaktoren und die eigenen Anteile weiß.

11. Kapitel

Das elfte Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, was Arbeitgeber, Nachbarn, Familie und Freunde wissen sollten: „Die Frage, welche Menschen über die depressive Erkrankung Bescheid wissen sollen und wie man sie am besten informiert, kann für den einzelnen Kranken sehr wichtig sein. Denn obwohl oft die Depression anfänglich nicht nach außen sichtbar ist oder erst später depressive Herabgestimmtheit oder Verstimmung, rasche Erschöpfbarkeit und Müdigkeit, Rückzug aus den bisherigen sozialen Bezügen deutlich werden, fällt Partnern und Kindern, aber auch Nachbarn, Freunden oder Arbeitskollegen die Veränderung auf.“

12. Kapitel

Im zwölften Kapitel beschreibt der Autor, was Angehörige „tun können, tun sollen, was sie nicht tun sollen“. Sehr hilfreich ist dabei ein Übersichtskasten mit „Regeln für den Umgang mit einem depressiven Familienmitglied“. Diese Empfehlungen nach den Erfahrungen Angehöriger gliedern sich in zwei Bereiche:

– Wie nicht? (z.B. theoretisch, überfürsorglich, misstrauisch, ängstlich, aggressiv).

– Wie dann? (z.B. verständnisvoll einfühlend, geduldig, Hilfe annehmen, echt bleiben).

13. Kapitel

Das dreizehnte Kapitel widmet sich allen unterstützenden Therapieformen wie z.B. Ergo-, Kunst- und Musiktherapie usw. „Allen Therapieformen gemeinsam ist der nonverbale, psychotherapeutisch orientierte Zugang, der auf Persönlichkeitszüge des Patienten, auf Verhaltensweisen, auf depressives Erleben und auch körperliche Befindlichkeit zielt, ohne dass das Gespräch im Vordergrund steht.“ Wichtig kann an dieser Stelle auch das Einbeziehen von Selbsthilfegruppen sein.

14. Kapitel

Im vierzehnten Kapitel geht es um die stationäre Behandlung in einer psychiatrischen Klinik. Der Autor geht dabei auch auf die Ängste, Befürchtungen, Sorgen und Vorurteile ein, die mit diesem Schritt verbunden sein können und verweist auf die Modernisierungen und Spezialisierungen der sogenannten „Klapsmühle“ in den letzten Jahrzehnten. Zur Transparenz fügt er ein typisches Therapiekonzept einer Depressionsstation ein.

15. Kapitel

Das fünfzehnte Kapitel setzt sich mit der Thematik der Suizidgefährdung auseinander. Die beiden zentralen Fragen sind dabei:

  • Wie kann man eine Suizidgefährdung erkennen?

  • Was kann man zur Suizidverhütung tun?

Hilfreich sind in diesem Zusammenhang Listen mit konkreten Fragen zur Klärung der Suizidgefahr, typischen Fehlern im Umgang mit suizidalen Depressiven (wie das Nichtbeachten von Zeichen) und konkreten Dingen, die man zur Suizidverhütung tun kann.

16. Kapitel

Im vorletzten Kapitel finden sich Antworten auf die Frage, ob eine Depression auch positive Seiten hat: „Es geht nicht um die Frage, ob die Depression als akute Erkrankung ´positive` Seiten hat, sondern es geht darum, dass in ihrer Persönlichkeit depressiv strukturierte Menschen (…) ,die ihre Erkrankung erfolgreich überstanden haben, manchmal der Depressivität Seiten abgewinnen können, die auf eine Bereicherung ihres Lebens hinweisen.“ Sie „erscheinen oftmals ernster, aber nicht verbittert oder resigniert. (…) Es verrücken sich die Werte. Die Ernsthaftigkeit zeichnet sich vor allem durch eine wartend offene Haltung gegenüber dem Leben aus. Dieser Ernst hat oftmals auch spirituellen Charakter (…)“.

17. Kapitel

Das letzte Kapitel schließlich ist „eine Art Zusammenfassung“. Wolfersdorf schreibt: „Wenn es gelungen ist, Betroffenen und Angehörigen einen Eindruck über das, was heute zur Depression gedacht wird, zu vermitteln, so ist das Hauptziel des Autors erreicht. Wenn die Leserinnen und Leser nun wissen, dass die Depression keine ausweglose Erkrankung ist, sondern dass Hilfe und Heilung möglich sind, dann – so hofft der Autor – werden sie diese Hilfe auch in Anspruch nehmen und damit den ersten Schritt auf dem Weg aus der Depression tun.“

Anschließend finden sich noch eine Danksagung und Literaturempfehlungen.

 

Meine Meinung

Bei diesem Fachbuch gefällt mir die Kombination aus nüchternen Sachinformationen mit zahlreichen Fallbeispielen und Beiträgen von erkrankten Menschen wie Aussprüchen, Bildern, Gedichten und anderen Texten. Ein Beispiel für den Ausspruch eines Patienten: „Die Treppe fällt man auf einmal hinunter; es ist mühsam, braucht Zeit und Geduld, es gibt Rückschläge, Stufe für Stufe wieder nach oben zu steigen.“ Diese Beiträge Betroffener veranschaulichen die vermittelten Fachkenntnisse nicht nur, sondern geben ihnen quasi ein Gesicht: sie differenzieren, individualisieren, personalisieren und machen plastisch deutlich, dass es DIE Depression in der Tat nicht gibt.

Gut finde ich außerdem das elfte Kapitel, dessen Inhalte keineswegs in jedem Buch über seelische Erkrankungen zu finden sind. Dabei ist die Frage, ob und was man denn dem sozialen Umfeld wann, wie und warum erzählen soll – oder auch nicht – auch in meiner Praxis eine Unsicherheit, mit der sich die Klientinnen und Klienten regelmäßig beschäftigen. Auch wenn es hier sicher keine Pauschalantwort gibt, finde ich die Auseinandersetzung damit in einem gesonderten Buchkapitel löblich und hilfreich.

Schade finde ich den nüchternen Schreibstil des Autors. Natürlich geht es um Sachinformationen und die werden auch durchaus mit einer gehörigen Portion Verständnis und Patientenorientierung vorgetragen. Dennoch erscheint mir der Stil als Frau und Psychotherapeutin recht männlich-kühl und ich hätte mir an verschiedenen Stellen mehr Wärme gewünscht. Nun, vielleicht kann man ja tatsächlich nicht alles haben und ich freue mich – wie immer – auf Austausch mit dir und bin gespannt auf deine Meinung.

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Foto: Pixabay

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