Die Selbstmitgefühlsfrage

Der Diplompsychologe und Psychotherapeut Andreas Knuf aus Konstanz schreibt in seinem Buch „Sei nicht so hart zu dir selbst“:

Es gibt eine ausgesprochen wirkungsvolle Frage, die ich genau so einfach wie gut finde und die nach meiner Erfahrung besonders dafür geeignet ist, mehr Selbstmitgefühl in unseren Alltag zu bringen.“ Diese Frage bildet den Kern der Übungen für mehr Selbstmitgefühl im Alltag, die er in seinem Buch vorstellt.

Sie lautet: „Wenn ich es gut mit mir meine, was würde ich jetzt tun?

Es gibt verschiedene Formulierungsmöglichkeiten, zum Beispiel:

  • Wenn ich Selbstmitgefühl für mich empfinde, was würde ich jetzt tun?

  • Wenn ich freundlich zu mir bin, was würde ich jetzt tun?

  • Wenn ich Ja zu mir sage, was würde ich jetzt tun?

  • Wenn ich es gut mit mir meine, was würde ich jetzt tun?

Wähle die Formulierung aus, die dir entspricht oder finde eine Wortwahl, die noch besser zu dir passt. Es geht darum, dir die Frage immer wieder zu stellen – am besten mehrmals am Tag und in den unterschiedlichsten Situationen. Natürlich lässt sie sich auch in einer Krise nutzen, in besonders schwierigen Situationen oder an Nicht-mein-Tag-Tagen. Gedacht ist sie aber vor allem als Alltagsübung zur Selbsterforschung deiner wahren Bedürfnisse.

Andreas Knuf stellt noch eine abgewandelte Form dieser Übung vor. Darin geht es um eine freundliche Rückschau auf den vergangenen und einen positiven Ausblick auf den nächsten Tag. Du kannst sie gut vor dem Schlafengehen bzw. direkt nach dem Aufwachen machen. Frage dich:

  • Wenn ich heute freundlich zu mir gewesen wäre, dann hätte ich…

  • Wenn ich heute freundlich zu mir bin, dann werde ich…

Wichtig ist bei diesen Übungen, „dass es in erster Linie nicht um ein Nachdenken über das jeweilige Thema geht, sondern eher um ein inneres Zurücktreten; darum einen Raum zu schaffen, in dem die Antworten auftauchen können.“

Nimm dir jedes Mal, wenn du dir diese Fragen stellst, einen Augenblick Zeit. Nimm wahr, was Selbstmitgefühl in diesem Moment für dich bedeutet und was dir im Moment gut tut. Dabei geht es um ganz konkrete Verhaltensweisen, z.B. etwas zu tun, was gerade gut für dich ist oder etwas zu unterlassen, was dir schadet. In den meisten Situationen geht es dabei nicht um die großen Dinge des Lebens, sondern um kleine Dinge: dir selbst mal eine Pause verordnen und zur Ruhe kommen, dir Zeit nehmen und in die Natur gehen oder dich entspannter zum Essen hinsetzen. All das ist Selbstmitgefühl.

Wenn sich nichts ändern muss

Knuf berichtet in seinem Buch von einer aufschlussreichen Erfahrung, die ich gerne wiedergeben möchte. Eines Morgens saß er auf seinem Meditationskissen und begann seine Morgenmeditation. Während dieser Meditation kam ihm dann eine Erkenntnis, die er in dieser Klarheit nie zuvor erfahren hatte und die er nicht wieder vergessen hat. Er wusste plötzlich, dass er gar nicht anders werden muss als er ist. Er konnte glasklar sehen: „Ich darf genau so sein wie ich bin, mit meinen Fehlern und Schwächen, mit meinen Gefühlen, die nicht immer schön sind, mit dem, was mir in diesem Leben möglich ist und dem, was mir in diesem Leben nicht möglich ist. Und auch das, was mir in meinem Leben nicht gefällt, darf so sein wie es ist und muss gar nicht anders werden.

Er betont, dass das kein Gedanke war, sondern eine absolute Gewissheit. Als ihm das klar wurde, „stellten sich Frieden und Ruhe ein, Erleichterung und Freude.“ Obwohl die Situation schon eine Weile zurückliegt, kann er die damit verbundene tiefe Freude noch immer spüren. Er schreibt, dass es ein bisschen so war, wie aus einem üblen Albtraum zu erwachen. Zwar kehrte sein kritischer Geist nach der Meditation langsam wieder zurück und zählte einige dringend zu ändernde Dinge auf. Dennoch ist nun etwas verändert, weil ein Teil von ihm weiß, „dass der ganze Änderungswahn absolut überflüssig und unnötig ist.“

Vielleicht finde ich das so schön, weil ich das ab und an auch schon so in der Meditation erlebt habe!? Da stieg etwas in mir hoch, dass sich irgendwie anfühlte wie die absolute Wahrheit. Und dann begleiteten mich diese Erkenntnisse für lange Zeit in meinem Leben, so profund waren sie. Eine dieser persönlichen Wahrheiten habe ich mit Lippenstift auf eine Glasscheibe in meiner Praxis geschrieben:

Vertrauen

Widerstand aufgeben

Hingabe

🙂

Als mich eines Tages ein Netzwerkpartner besuchte, blieb er fasziniert davor stehen und sagte mit einem tiefen Lächeln: „Jetzt weiß ich schon alles, was ich über Sie wissen muss.“ Das war ein schöner Augenblick, entstanden aus einer Meditation sozusagen…

Deine Bedürfnisse achten

Andreas Knuf schreibt: „Wir Menschen sind sehr verschieden, wir haben ganz unterschiedliche Vorlieben und Interessen. (…) Zufriedenheit finden wir, sofern wir unserem Wesen entsprechend leben können. Dann stellt sich Wohlbefinden ein, weil der innere Kampf, das innere Zurechtbiegen endlich ein Ende finden. Stress entsteht zum Großteil dadurch, dass wir unsere Bedürfnisse ignorieren. Es gibt Situationen, in denen sich das nicht vermeiden lässt. (…) Es gibt aber auch viele andere Situationen, in denen wir die äußere Freiheit hätten, uns so zu verhalten, wie es unseren Bedürfnissen und unserem Wesen entspricht. Wir tun es aber nicht, weil uns die innere Freiheit fehlt. Leider nehmen wir oft gar nicht wahr, dass es in Wahrheit um die innere Freiheit geht und schieben alles auf die äußeren Bedingungen. Es heißt dann oft: ´Ich würde ja gerne, aber…`.

Und genau in diesen Momenten stellst du dir die Frage:

Wenn ich es gut mit mir meine, was würde ich jetzt tun?

Andreas Knuf hat doch tatsächlich eine Umfrage unter Bekannten und Freunden dazu gemacht, welche ihrer Bedürfnisse sie manchmal oder öfter missachten. Hier eine kleine Auswahl:

  • Schlafen, wenn ich müde bin, und ganz generell: genug schlafen.

  • Regelmäßig essen und in Ruhe essen.

  • Mal ein wirklich freies Wochenende haben, das nicht verplant ist.

  • Neben der Zeit, die ich mit der ganzen Familie verbringe, auch mal Zeit nur mit meiner Frau zu haben.

  • Mir erlauben, mal ein paar Tage alleine wegzufahren, ohne die Familie.

  • Langsamer arbeiten.

  • Mich aufs Sofa legen, ohne vorher die ganze Wohnung geputzt zu haben.

  • Vor und nach dem Urlaub ein oder zwei Tage Zeit haben und nicht gleich am ersten freien Tag aufbrechen.

Na, findest du dich wieder?

Nach unseren Bedürfnissen zu leben beginnt schon bei den kleinen Dingen:

Erlaube ich es mir,

  • allein, zu sein, wenn ich das Bedürfnis habe?

  • und mit anderen Menschen zusammen zu sein, wenn es mir entspricht?

  • mich zu entspannen und nichts zu tun?

  • mich zu bewegen, wenn mein Körper das Bedürfnis hat?

Um nur einiges zu nennen. Diese Beispiele mögen banal erscheinen und doch scheitern wir bereits so oft schon an den kleinen Dingen. Manchmal bemerken wir noch nicht einmal, dass wir hungrig oder durstig sind oder eine Pause brauchen. Gemäß der eigenen Bedürfnisse zu leben bedeutet herauszufinden, was deine Bedürfnisse sind und dann zu entscheiden, welchen von ihnen du in welcher Form entsprechen kannst. Es geht nicht darum, sie auf Kosten anderer auszuleben. Oftmals ist es nötig, Kompromisse einzugehen oder die eigenen Bedürfnisse zugunsten derer anderer Menschen zurückzustellen. „Der entscheidende Punkt ist aber“, schreibt Knuf, „ob wir überhaupt noch wahrnehmen, was unsere Bedürfnisse sind. Denn nur dann können wir entscheiden, ob es möglich ist, ihnen nachzukommen oder ob wir sie zurückstellen müssen.“

Die Ja- und die Nein-Liste

Außerdem stellt der Psychologe fest: „Fast allen Menschen fallen auf Anhieb Bedürfnisse ein, die aus falsch verstandener Rücksichtnahme auf andere zurückgestellt werden oder die man sich schon gar nicht mehr wahrzunehmen traut. Welches Bedürfnis wäre das bei dir?“

Wenn du so sein darfst, wie es dir entspricht, dann brauchst du bestimmte Dinge nicht mehr zu tun und andere darfst du endlich tun. Selbstmitgefühl ermöglicht es dir klar zu sehen, was du im Innersten möchtest und was nicht, und dich dann für dich einzusetzen. Dabei geht es darum, dass du dir deiner eigenen Werte bewusst wirst und gemäß dieser Werte lebst. In diesem Zusammenhang kann es hilfreich sein, die Verhaltensweisen aufzulisten, die du vermeiden möchtest oder die du in Zukunft häufiger an den Tag legen möchtest.

Andreas Knuf schlägt vor, eine Ja- und Nein-Liste zusammenzustellen. Beim Erstellen solcher Listen geht es nicht nur darum, gesündere Lebensbedingungen zu schaffen. Es geht auch darum, eine Motivation für Veränderung wachsen zu lassen. Die Herausforderung besteht dabei nicht allein darin, solche Listen zusammenzustellen, sondern sie beim Erarbeiten sozusagen zu „durchleiden“. Bei der Nein-Liste musst du dich nämlich vielleicht auch mit dem Schmerz beschäftigen, der durch viele Jahre unfreundlichen Umgang mit dir selbst entstanden sein kann. Bei der Ja-Liste könnte Vorfreude aufkommen, aber auch der Zweifel des inneren Kritikers, ob du die Punkte auch wirklich umsetzt.

Hier das Beispiel eines Klienten des Psychotherapeuten:

Nein-Liste: Ich möchte nie wieder…

Ja-Liste: Ich werde zukünftig…

noch nach 20 Uhr im Büro hocken

mindestens einen Tag pro Woche gar nicht arbeiten

Schlafmittel nehmen müssen, weil ich mich so unter Druck setze, dass ich nicht mehr schlafen kann

mehr Zeit für meine kleine Tochter haben

länger als zwei bis drei Tage zu meinen Schwiegereltern fahren

morgens früher aufstehen, um ruhiger in den Tag zu starten

fremdgehen

 

krank zur Arbeit gehen

 

Wenn es dir gelingt, deine beiden Listen auch nur ansatzweise umzusetzen, wirst du sicherlich zufriedener und freudiger durchs Leben gehen. Sicher wirst du mehr im EINKLANG mit deinen Bedürfnissen einerseits und inneren Werten andererseits leben und dadurch zugleich freundlicher mit dir selbst umgehen.

Das ist doch einen Versuch wert, findest du nicht? Brauchst oder möchtest du ein bisschen Unterstützung dabei? Dann melde dich gerne bei mir, denn dafür bin ich da und stelle dir gerne Zeit und Raum zur Verfügung!

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nach Andreas Knuf: Sei nicht so hart zu dir selbst. Selbstmitgefühl in guten und in miesen Zeiten. München 2016

Foto: Pixabay

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