Die Wolfsfrau

Heute stelle ich dir ein Buch vor, das seit 1992 die Welt bewegt, mir im letzten Jahr zwischen die Finger geriet und mich seitdem nicht mehr loslässt.

 

Clarissa Pinkola Estés:

Die Wolfsfrau. Die Kraft der weiblichen Urinstinkte.

München 10. Auflage 1997

Die Autorin

Clarissa Pinkola Estés, Jahrgang 1943, ist mexikanischer Herkunft und wurde als Kind von ungarischen Emigranten adoptiert. Sie hat in Etnologie und klinischer Psychologie promoviert und ist als Jungianische Psychoanalytikerin tätig. Ihr Buch ´Die Wolfsfrau` wurde in den USA über Nacht zum Kultbuch und weltweit zum Bestseller. Pinkola Estés lebt in Wyoming und Colorado, wo man sie wegen ihrer erzählerischen Begabung mit dem Titel ´Cantadora` (Märchenerzählerin) auszeichnete.

 

Der Klappentext

Auf dem tiefsten, unerforschten Grund ihrer weiblichen Psyche kann jede Frau auf eine Urkraft stoßen, die dort verschüttet liegt: ihre naturgegebene ´Wildheit`, voller richtiger Instinkte, leidenschaftlicher Kraft und alterslosem Wissen. Diese Quelle weiblicher Urenergie gilt es für die moderne Frau wiederzufinden, die sich durch unsere Zivilisation und unsere Gesellschaft in starre Rollen gepresst sieht, die sie ihrer Urkraft beraubt haben.

Clarissa Pinkola Estés glaubt, dass eine Frau nur stark, gesund, kreativ, ´heil` und glücklich sein kann, wenn sie zu den Wurzeln ihrer instinktiven Natur zurückfindet – zur `Wolfsfrau´, der wilden, ungezähmten Urfrau in ihr.

Nur wenn eine Frau die ihr angezogene Rolle des Lieb-, Nett- und Angepasstseins, des Gehorchens, Fügsamseins, des Sichunterordnens und Stillseins aufgibt, kann sie aufwachen und wieder ´sehend` werden. Um Zugang zu den verschütteten Energiequellen ihres Unbewussten, Unterdrückten, Verdrängten zu bekommen, muss sie sozusagen archäologisch tätig werden. Dies kann sie mit Erfolg tun, indem sie sich zum Beispiel mit Mythen, Märchen, Geschichten, Legenden – von denen es viele in abgewandelter Form in der ganzen Welt gibt – beschäftigt, in denen auf verschlüsselte Weise das Wissen über die wilde, archetypische Frau enthalten ist. ´Erzählungen sind Medizin´, sagt die Autorin.

Rund zwanzig Mythen, Märchen und Geschichten aus den verschiedensten Kulturkreisen dieser Welt erzählt und analysiert Clarissa Pinkola Estés in diesem Buch, um Frauen wichtige Aspekte ihres Charakters und ihrer Verhaltensmuster zu erhellen, damit diese an die im eigenen Ich schlummernden gesunden, instinkthaften Eigenschaften der ´Wolfsfrau` wieder anknüpfen können.“

 

Das Vorwort

Allein das Vorwort ist schon so kraftvoll, dass ich es hier wortwörtlich zitiere: „Wir alle sind von einer Sehnsucht nach wilder Ursprünglichkeit erfüllt. Aber es gibt kaum ein kulturell akzeptiertes Mittel, das diese Art von Heißhunger stillt. Man hat uns Scham vor diesem Verlangen anerzogen, und so haben wir gelernt, unsere Gefühle hinter langen Haarmähnen zu verbergen. Aber ein Schatten der Wilden Frau verfolgt uns bei Tag und auch bei Nacht. Wo wir auch hingehen, ein Schatten trottet hinter uns her – und immer einer auf vier Beinen.“

 

Das Buch in meiner Lesart

Das Buch ist in 16 sehr unterschiedliche, dichte Kapitel unterteilt und schlichtweg großartig. Ich bin erst letztes Jahr in einer Literaturliste auf „Die Wolfsfrau“ gestoßen, habe es monatelang kapitelweise gelesen und dann schließlich noch einmal gelesen und auch verschenkt, weil ich es so unglaublich profund finde.

Nicht nur wegen der gut 500 Seiten ist es kein Werk, das man in kurzer Zeit von vorne bis hinten durchliest. Es ist so facettenreich, komplex und intensiv, dass es eher ein Begleiter für längere Zeit ist und manchmal nur in kleinen Häppchen verdaut werden kann. Vollwertkost sozusagen. Nicht mal so eben nebenher herunterzuschlingen.

Einige Teile haben mich überhaupt nicht oder kaum angesprochen. Andere wiederum haben in mir so viel Resonanz ausgelöst, dass ich mehrere Textmarker in ihnen verbraucht habe, weil ich immer wieder: „Ja, ja! Genau so! Das ist so wahr. Yesss!“ dachte und das zum Ausdruck bringen musste.

Viel Resonanz

Das geht schon gleich in der Einleitung los, als die Autorin schreibt: „Viele Frauen neigen dazu, ihre Unkenntnis über ihre eigene Wesensnatur hinter Staubwolken einer endlos wirbelnden Hyperaktivität zu verbergen. Aber das weibliche Urwissen wartet im Untergrund darauf, wiederentdeckt und auch von der modernen Frau benutzt zu werden.“ Sie spricht über den „Gesang der ausgehungerten Seele“. Und über Frauen, die „die Witterung aufgenommen haben“ und dann nicht mehr zu bremsen sind: „Der Schreibtisch wird leer gefegt, Beziehungen werden entweder geklärt oder gekündigt, die Gedankenwelt wird entrümpelt, ein Schlussstrich gezogen, eine neue Seite im Buch des Lebens aufgeschlagen. Und falls es gar nicht anders geht, wird die Welt, wie sie uns vorgeschrieben wurde, aus den Angeln gehoben, denn ohne den spürbaren Kontakt zur Wilden Frau gehen wir keinen Schritt weiter.“

Clarissa Pinkola Estés schreibt von Wachsamkeit, Klarsicht, einem visionären Durchblick, von vibrierendem Leben und einem Leuchten von innen heraus. Und das hier: „Gesunde Frauen sind in vieler Hinsicht wie Wölfe: robust, vital, großmütig, territorial, einfallsreich, treu und verspielt. Nur durch die Abspaltung von ihrer Wildnatur werden sie mickrige, hilflose, schwächliche Püppchen. Von Natur aus sind wir nicht zu fragil oder zu traumverloren, um etwas mit enormer Hartnäckigkeit bis zum gelungenen Ende zu verfolgen, etwas ins Leben zu setzen, großzuziehen, aufzubauen. Wenn Frauen in Langeweile stagnieren, ist es Zeit für die Wilde Alte, aufzutauchen; es ist Zeit für die schöpferische Funktion der Psyche, das Delta zu überfluten.“

Erschütterung

Andere Teile fand ich erschütternd berührend, vor allem das 6. Kapitel zum Thema Zugehörigkeit, aufgehängt an Hans Christian Andersens Märchen „Das hässliche Entlein“. Bis dahin wusste ich noch gar nicht, dass Andersen Dutzende von Märchen über Waisenkinder geschrieben hat und daher sozusagen als „Schutzpatron aller unverstandenen Kinder und Außenseiter“ gesehen werden kann. Clarissa Pinkola Estés scheut sich nicht, von „psychischer Einöde“ zu schreiben, von „Verwundetem und Kaputten“, „psychologische Tiefen“, „abgestorbenen, restaurationsbedürftigen Teilen in uns“ zu schreiben und gleichzeitig von „tiefstem Mitgefühl und einer Liebe, die nur das Selbst für das Selbst empfinden kann. Das ist Singen über den Knochen. Wir dürfen nicht den Fehler machen, dieses immens heilsame Liebesgefühl einem Liebhaber entlocken zu wollen. Jeder Versuch, einem anderen diese Aufgabe zu übertragen, muss scheitern, denn hier wird eine Form von Tiefenarbeit geleistet, die jeder für sich selbst in der Wüste der eigenen Psyche verrichten muss.“

Die Dame redet Klartext und packt die Karten auf den Tisch. „Es gibt Wege, und es gibt Wege. Es gibt einige leichte Wege, aber keine leichten Wege, von denen ich weiß, dass sie auch Integrität haben. Es gibt viel mehr und viel quälendere und schwierigere Wege, die Integrität besitzen und die Anstrengung wert sind.“ Da wird nicht um den heißen Brei herum geredet und alles in ein sanftes rosarotes Licht getaucht. Ganz im Gegenteil: Es geht um Unannehmlichkeiten und Prüfungen, Leben und Tod, Schmutz und Blut und Knochen und Tränen und Zorn und mitunter auch derben Sex – also alles zwischen Himmel und Erde, was das menschliche bzw. weibliche Leben so ausmacht. Und es geht um das „innewohnende Raubtier“. Ein Aspekt in der Psyche, „der sich mit aller Macht gegen transformierendes Wachstum und eine positive Fortentwicklung sträubt“, „eine animalische Rückentwicklungskraft, ein innerer Trieb, sich jeder Form der Transzendenz zu widersetzen, harmonische Kooperation zu verhindern und die einsichtsvolleren Instinkte der Wildnatur zu bekämpfen.“ Ein angeborener Räuber, der „alles einmal Erreichte hohnlachend zunichte machen“ will.

Trost

Gleichzeitig gibt es aber auch so viel Trost zwischen den Buchdeckeln zu finden, z.B. in dieser Passage: „Ich hoffe zeigen zu können, dass sich auf diese Weise die Haut alter Narben spürbar weicher machen lässt, dass sich alte Wunden endlich schließen und die Fähigkeit wiederersteht, die Seele sichtbar werden zu lassen.“ Oder: „Deshalb sage ich, fürchtet euch nicht, das absolut Schlimmste über euch selbst herauszufinden. Durch neue Einsichten und durch die daraus entstehenden Gelegenheiten, das eigene Leben und das Selbst zu betrachten, werdet ihr nämlich am Ende nur stärker und kompetenter, sonst gar nichts.“

Inspiration

Unendlich spannend auch die vielen Hinweise auf die jungianische Psychologie, z.B. in Bezug auf die eigene maskuline Energie der Frau: „Der Animus setzt sich aus zum Teil sterblichen, zum Teil instinktiven und zum Teil kulturbedingten Komponenten zusammen und erscheint in vielen Märchen und Traumsymbolen in Gestalt des Sohnes einer Frau, als Ehemann, Fremdling und/oder Liebhaber, unter Umständen auch als eine bedrohliche Figur, entsprechend der derzeitigen Seelenverfassung der Frau. Der Animus repräsentiert ein unerlässliches Element in der weiblichen Psyche, weil er genau die Eigenschaften besitzt, die den Frauen traditionell aberzogen und aberkannt werden, wie etwa die Aggressivität, um nur die meistgeschmähte Eigenschaft zu nennen, sofern sie von Frauen demonstriert wird.“

 

Resümee

Klug, tief, berührend, stark, weich, brutal, tröstend, verstörend, ermutigend, inspirierend, verblüffend, integer, weise, unendlich tief, intensiv und kraftvoll. Bodenständig spirituell.

Das Werk einer akademisch gebildeten Frau, die aus einer Familie kommt, deren Mitglieder weder lesen noch schreiben konnten und statt dessen auf das gesprochene Wort und überlieferte Geschichten vertrauten. Einer Familie, in der Geschichten als Medizin, als Heilkunst verwendet wurden.

Das Schlusswort stammt nicht von mir, sondern von der Autorin: „Ich hoffe, Sie werden hinausgehen und zulassen, dass Ihnen Geschichten, das heißt das Leben, passieren, und dass Sie mit diesen Geschichten aus Ihrem Leben arbeiten – aus Ihrem Leben, nicht aus dem Leben eines anderen -, und dass Sie sie mit Ihrem Blut und Ihren Tränen und Ihrem Lachen bewässern, bis sie blühen, bis Sie selbst voll erblühen. Das ist die Arbeit. Die einzige Arbeit.“

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Foto: Pixabay

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