Kennst du dieses unterschwellige Gefühl, nicht gut genug zu sein? Nicht ganz so attraktiv, erfolgreich, sportlich usw. zu sein, wie du vielleicht könntest oder solltest?
Brähler schreibt: „Es ist oft dieses latente Gefühl von Mangel und Unzulänglichkeit, das die treibende Kraft hinter unseren Bemühungen ist, in der Arbeit mehr zu leisten, unseren Körper durch Fitness und Diäten zu optimieren, unser Aussehen dem aktuellen Trend anzupassen oder die Gesellschaft von Menschen zu suchen, durch die wir uns mehr Anerkennung und Ansehen erhoffen.“
Und: „Wie wir aus der Evolutionspsychologie und Neurowissenschaft wissen, hungert jeder von uns (mal mehr, mal weniger bewusst) nach Liebe, Anerkennung und Wertschätzung von anderen und versucht, sich diese durch Steigerung der Attraktivität und des Ansehen zu sichern. Ein Streben nach mehr und besser ist das Ergebnis. Wir steigern unsere Erwartungen an uns, an unsere Kollegen, unsere Partner in den Bereich des Unerreichbaren, sodass gut genug nie gut genug sein kann, denn es ginge ja immer noch besser.“
Der Knackpunkt dabei ist, dass wir ein Bedürfnis in uns von außen zu stillen versuchen.
Hinter dem Streben nach mehr, besser, anders liegt eine Angst zu versagen oder von anderen verachtet, ausgegrenzt und verlassen zu werden. Das ist natürlich, denn wir sind als Menschen für unser Überleben auf die Liebe und Wertschätzung anderer angewiesen. Stell dir trotzdem mal die Frage, ob du durch das Erreichen deines Wunschzieles wirklich nachhaltige Liebe und Wertschätzung erhalten oder nur kurzfristig deinen Hunger stillen wirst? Und nach was hungerst du eigentlich? Was würde deinen Hunger denn langfristig stillen? Was würde deine Angst wirklich beruhigen? Die Beförderung oder ein perfekter Body? Oder den Mut zu haben, dich unsicher und verletzlich zeigen zu können und dich trotzdem oder gerade deshalb sicher und von anderen geliebt und respektiert zu fühlen? Und zwar so, wie du bist, ohne anders sein, mehr haben oder darstellen zu müssen?
Stell dir vor, du siehst dich aus der Perspektive einer lieben Freundin oder eines lieben Freundes. Würde sie/er nicht etwas anderes sehen als den Mangel? Bist du nicht so viel mehr? Lasse dich all das sehen und spüren, was in dir und deinem Leben gut ist. So, wie es ist. Was hast du alles aus dem Blick verloren vor lauter Streben nach Perfektion? Wie fühlt es sich an, laut zu sagen: „Ich bin nicht perfekt, aber vieles an mir ist großartig!“?
Brähler erinnert an das Buch „5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“ der Palliativpflegerin Bronnie Ware. Eins der Versäumnisse, die Menschen am Ende ihres Lebens bereuen ist: Nicht mutig genug gewesen zu sein, ihr eigenes Leben zu leben und statt dessen den Erwartungen anderer entsprochen zu haben. Brähler schließt daraus: „Die Allgegenwärtigkeit dieser Neigung, sich nach der Anerkennung anderer auszurichten, zeigt uns, dass wir bewusst daran arbeiten müssen, nicht mehr vor uns wegzulaufen, sondern zu uns nach Hause zu kommen.“
Scham und Verletzlichkeit verstehen
Das Streben nach Perfektion führt letztendlich zu emotionaler Belastung, wenn es von Angst motiviert ist – Angst, nicht geliebt zu werden, Fehler zu machen, mittelmäßig zu sein, dich schwach zu fühlen oder zu verlieren. Perfektionismus dient als Schutzmechanismus, der dir so lange Sicherheit gibt, bis du dich attraktiv, beliebt, erfolgreich und stark fühlst.
Wenn du dich stark und erfolgreich fühlst und dann irgendwann scheiterst und dich dafür verurteilst, entsteht Scham. Du schämst dich für das, was passiert ist. Brähler: „Scham beschreibt ein zutiefst unangenehmes Gefühl von Bloßgestelltsein, Minderwertigkeit und Ausgegrenztsein. Wir glauben, auf andere unattraktiv, verabscheuenswürdig oder sonderbar zu wirken, und haben Angst, ausgestoßen, gedemütigt oder bestraft zu werden. Scham gibt uns das Gefühl, verletzlich und angreifbar zu sein.“
Die Scham hat dabei eine Funktion, es gibt einen Sinn dahinter: Wenn du gesellschaftlich nicht akzeptierte Dinge tust, dann wirst du durch Beschämung geächtet. Damit wird dir signalisiert, dich gefälligst an die Spielregeln zu halten, wenn du dazugehören willst. Scham ist also ein sozialer Regulationsmechanismus. Er hilft dir sicherzustellen, dass du akzeptiert wirst und somit zu der Gruppe gehörst, was du zum Überleben benötigst.
Weil die Scham aber so unangenehm ist, hast du automatische Schutzreaktionen entwickelt, um nicht in eine beschämende Situation zu kommen. Du vermeidest durch Ablenkung, Beschönigen, Lügen, Rückzug, Unterwerfung oder Verdrängung, bist immer lieb und nett und angepasst und maßregelst dich selbst. Leider fördern Scham und die dazu gehörenden Schutzreaktionen psychische Erkrankungen. Scham beinhaltet nämlich die Verurteilung der gesamten Person („Ich bin ein schlechter Mensch“) und nicht nur ein punktuelles Fehlverhalten („Ich habe da einen Fehler gemacht“). Wer als Kind von wichtigen Bezugspersonen beschämt wurde, ist als erwachsene Person anfälliger für das Empfinden von Scham. Die Verurteilung der ganzen Person kann eine vernichtende Wirkung auf dein Selbstwertgefühl und dein Vertrauen haben.
In einem Moment der Scham braucht es daher eine mitfühlende Retterin oder einen mitfühlenden Retter. Es braucht eine Person, die deine Menschlichkeit wiedererweckt. Ein Gegenüber, das dich wieder aus dem Abgrund herausholt. Eine Person, die mutig zu dir in das schwarze Loch hinabsteigt und dir den Weg zurück ans Licht zeigt. Eine Person, der du dich in all deiner Verletzlichkeit anvertrauen und zeigen kannst.
Das Ziel der folgenden Übung, die ursprünglich von dem englischen Psychologen Paul Gilbert stammt, ist es, dir ein mitfühlendes Wesen vorzustellen. Dieses mitfühlende Wesen geht mit dir an Orte, vor denen du dich fürchtest oder an denen du dich selbst verlierst. Das Wesen kann ein echter Mensch sein, ein spirituelles Vorbild, ein Fantasiewesen oder ein Tier, Baum oder Licht. Sei offen für die Bilder, die in dir aufsteigen.
Übung: Eine mitfühlende Freundin/Ein mitfühlender Freund
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Schließe die Augen. Spüre den Kontakt des Körpers zur Unterlage und zum Boden. Lasse dich einige Minuten von deinem natürlichen Atemfluss wiegen.
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Stelle dir einen Ort vor, an dem du dich sicher und geborgen fühlst. Lasse dich mit allen Sinnen darauf ein: Was kannst du sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen? Wie fühlt sich dein Körper dort an?
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Stelle dir nun vor, dass dir ein ganz besonderes Wesen mit übermenschlichen Fähigkeiten zu Mitgefühl und Weisheit begegnet. Dieses Wesen versteht dich und deine Probleme ohne Worte. Es strahlt eine tiefe Kraft und Ruhe aus. Es nimmt dich so an, wie du bist und sorgt sich um dein Wohlbefinden. Lasse ein Bild entstehen, das sich für dich stimmig und unterstützend anfühlt.
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Wie möchtest du mit diesem mitfühlenden Wesen in Beziehung treten? Wie tritt das Wesen mit dir in Beziehung?
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Empfange das Wohlwollen und die Fürsorge dieses Wesens und spüre hinein. Nimm den Gesichtsausdruck und die Gesten des Wesens wahr. Spricht es vielleicht mit dir, um dich in deiner Not zu unterstützen? Lausche den Worten und der Färbung seiner Stimme.
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Werde dir bewusst, dass dieses Wesen der mitfühlende Teil in dir selbst ist. Es ist immer bei dir.
Mut zur Unvollkommenheit
Um bei Scham Mitgefühl zu entwickeln, braucht es den Mut, dich den Aspekten und Verhaltensweisen in dir zuzuwenden, die du am liebsten unter den Tisch fallen ließest. Die gute Nachricht ist, dass du weniger verletzbar wirst, je mehr du dich deiner Verletzlichkeit zuwendest. Selbstverurteilung erhält nur dein emotionales Leid aufrecht und verstärkt dein negatives Selbstbild. Du bietest dann immer mehr Angriffsfläche. Wenn du deine verwundeten Gefühle jedoch liebevoll umsorgst, werden sie kleiner und bieten weniger Angriffsfläche. Selbstmitgefühl macht dich nicht schwach, sondern stark!
Studien haben gezeigt, dass Scham mit einem erhöhten und Selbstmitgefühl mit einem niedrigen Spiegel von Entzündungsmarkern im Blut einhergeht. Kurzfristige Entzündungsreaktionen stärken dein Immunsystem. Anhaltende machen dich jedoch anfällig für Krankheiten. Mitgefühl scheint das körperliche und das emotionale Abwehrsystem zu stärken. Das Mitgefühl legt sich schützend um das belastende Gefühl herum und setzt den schädlichen Aspekt außer Kraft.
Fehler anerkennen
Fehler machen ist menschlich und gehört zum Leben dazu. Fehler ermöglichen neue Entdeckungen, Flexibilität und Vielfalt. Fehler sind notwendig zum Lernen. Nur ein wirkliches Anerkennen deiner Fehlbarkeit und Unvollkommenheit kann zu echter Versöhnung mit dir und anderen führen. Was hast du durch deine vermeintlichen Fehler bislang alles in deinem Leben gelernt? Welche Lektion des Lebens wäre dir entgangen, wenn immer alles glatt gelaufen wäre? Wenn du aus Fehlern lernst, übernimmst du die Verantwortung für dein Handeln und übst dich in Selbstmitgefühl.
Im Gegensatz zur Selbstoptimierung ist das Ziel der Selbstmitgefühlspraxis, dich so anzunehmen, wie du bist und dich in deiner menschlichen Unvollkommenheit liebevoll zu akzeptieren. Das Üben von Liebe, Mitgefühl und Gleichmut hilft dir, all deine hungrigen, ungeliebten und verdrängten Selbstanteile mit Akzeptanz, Trost, Vergebung und Verständnis zu versorgen und so wieder Teil von dir werden zu lassen.
Schmerzhafte Gefühle verwandeln
Schmerzhafte Gefühle wollen wir am liebsten vermeiden. Leider führt Widerstand langfristig zu mehr statt weniger Schmerz. Und letztlich gehören auch diese schmerzhaften Gefühle zum Leben dazu. Wenn du den Mut aufbringst, den harten Panzer deines Widerstandes zu lockern, dann findest du darunter i.d.R. lang vernachlässigte weichere Empfindungen. Diese gilt es zu umsorgen. Brähler verwendet in diesem Zusammenhang das Bild einer Wunde: „In der Selbstmitgefühlspraxis nehmen wir den Panzer ab (Widerstand loslassen), dann desinfizieren wir die Wunde, was schmerzhaft sein kann (Schmerz benennen, anerkennen und im Körper spüren), und anschließend umsorgen wir die Wunde mit dem heilsamen Balsam des Mitgefühls, das den Schmerz lindert und den echten Heilungsprozess in Gang setzt.“ Finde den Rand des Schmerzes und lass ihn weich werden. Achte dabei darauf, nur so viel Schmerz zuzulassen, wie du gut bewältigen kannst! Lerne deinen Schmerz schrittweise kennen und erkenne das Bedürfnis hinter dem Schmerz, um dich diesem akzeptierend und liebevoll zuzuwenden.
Wenn du spürst, dass das dein Weg ist, du den aber nicht alleine, sondern lieber in professioneller Begleitung gehen möchtest, wende dich gerne an mich und wir schauen gemeinsam hin!
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Text abgewandelt entnommen aus dem Buch:
Christine Brähler; Selbstmitgefühl entwickeln. Liebevoller werden mit sich selbst. München 2015
Foto: Pixabay