Psychotherapie: Hurra, ich bin hochsensibel!

Heute stelle ich dir ein schönes Buch vor, mit dem ich mich sowohl persönlich als auch im Rahmen meines Arbeitsbereiches Psychotherapie/Beratung beschäftigt habe.

 

Cordula Roemer: Hurra, ich bin hochsensibel! Und nun?

Berlin 2017

 

Die Autorin

Cordula Roemer ist Diplom-Psychologin, Dozentin und Autorin. Sie beschäftigt sich seit 2007 intensiv mit dem Thema Hochsensibilität. Sie hält dazu Vorträge, gibt Fortbildungen, berät Betroffene und ist seit 2009 Gründerin und Leiterin der Offenen Berliner HSP-Treffen.

 

Der Klappentext

Dieses lebenspraktische Buch wirft einen psychologisch-philosophischen Blick auf zentrale Lebensaspekte, die entweder in Kindheitstagen oder im heutigen Alltag durch die fehlende Berücksichtigung Ihrer hochsensiblen Veranlagung belastet wurden. Zusätzlich gibt es Ihnen grundlegende Erklärungen sowie praktische Tipps an die Hand, um für Ihr eigenes Leben individuell passende Lösungen entwickeln zu können. Vielleicht sind Sie selbst hochsensibel oder haben Menschen in Ihrem Bekannten- oder Freundeskreis, die hochsensibel sind? Ganz gleich, ob Sie dies nur ahnen oder für sich bereits erkannt haben und sich nun fragen, wie es damit weitergehen kann: In diesem Buch finden Sie einerseits hilfreiche Erläuterungen und Hinweise, auf welche Weise es zu typischen, durch eine nicht erkannte Hochsensibilität entstandenen Schwierigkeiten kommen konnte und was Sie andererseits tun können, um diese zu meistern und dadurch Ihre außergewöhnlichen Gaben im Leben nutzbar zu machen. Die Autorin dieses Werkes ermutigt Sie über folgende Worte nachzudenken: Hochsensibilität ist Kompetenz!“

 

Das Buch

Das Buch ist in sechs Kapitel unterteilt:

  1. Am Anfang war das … Buch!

  2. Hochsensibilität – eine Veranlagung stellt sich vor

  3. Phase I: Die Erkenntnis

  4. Phase II: Die geistig-emotionale Integration des Phänomens

  5. Phase III: Die praktische Integration der Hochsensibilität

  6. Phase IV: Der sichtbare Hochsensible

 

Wesentliche Inhalte

Im ersten Kapitel erläutert die Autorin, für wen das Buch geschrieben ist (du bist selbst hochsensibel und/oder du hast hochsensible Menschen in deiner Familie, in deinem Freundeskreis oder auf der Arbeit), grenzt die Begriffe Hochsensibilität und Hochsensitivität voneinander ab, stellt verschiedene Abkürzungen zum Thema aus der Fachliteratur vor und äußert sich im Zusammenhang mit der im Buch verwendeten Sprache leider dahingehend, überwiegend die gewohnte männliche Sprachform zu nutzen, da Hochsensibilität gleichermaßen bei Frauen und Männern vorkomme…

Im zweiten Kapitel stellt die Autorin ausführlich die Veranlagung der Hochsensibilität vor. Da es sehr wesentliche Inhalte enthält, zitiere ich zu weiten Teilen wörtlich:

 

Was ist Hochsensibilität?

Hochsensibilität ist als naturwissenschaftlich erforschtes Phänomen relativ jung. „Durch die amerikanische Psychologin und Psychotherapeutin Elaine N. Aron hat es Anfang der 1990er-Jahre sowohl seinen derzeitigen Namen erhalten als auch seine seither wachsende Bekanntheit erlangt. Aron erkannte hinter einigen, in der Psychologie als Störungsbilder definierten Verhaltensweisen ein gemeinsames Muster, das sie als nicht krankheitsauslösend einstufte: eine deutlich erhöhte Aufnahmebereitschaft für Stimuli sowie deren intensive Verarbeitung. Nach ihren Angaben sind etwa 15 bis 20% aller Menschen davon betroffen, Frauen und Männer gleichermaßen, unabhängig von Alter oder Kultur.

Es ist jedoch zu vermuten, dass diese Veranlagung bei Menschen und anderen Lebewesen schon deutlich länger existiert, denn sie stellt eine der beiden effektiven Überlebensstrategien dar: Achtsamkeit als Prinzip der Beobachtung, Übersicht, Schutzgewährleistung sowie eine tief greifende und komplexe Lösungskompetenz. Die zweite Überlebensstrategie ist deutlich häufiger vertreten und uns daher auch viel vertrauter: aktive Extravertiertheit mit einem großen Potenzial an Risikofreude, Geselligkeit, Impulsivität und Offenheit.

Das Phänomen Hochsensibilität zeichnet sich durch eine hohe Reizfilteroffenheit aus. Dies bedeutet, dass die Betroffenen – überwiegend unbewusst – in einer vergleichbaren Situation deutlich mehr Informationen und Reize sowohl aus der Umwelt als auch aus dem eigenen Inneren aufnehmen als Normalsensible. Hinzu kommt eine intensivere neuronale Verarbeitung der Stimuli. Dies beides kann – unter guten Bedingungen – zu besonderen bis exorbitanten Leistungen führen. Hochsensibilität ist keine Krankheit oder Störung, sondern eine Variation im neuronalen System, die aus Sicht der menschlichen Evolution eine wichtige Funktion übernimmt, die in den letzten Jahrzehnten in unserer Gesellschaft leider in Vergessenheit geraten ist.

Bereits Anfang des letzten Jahrhunderts hatten sich einige Forscher mit diesem Phänomen beziehungsweise mit Teilen der Veranlagung befasst, ohne es jedoch so genannt und die Tragweite der Veranlagung gänzlich erfasst zu haben. Zu nennen wäre an dieser Stelle der russische Physiologe Iwan Pawlow, dessen Belastungstests die ersten Hinweise auf die spezielle Gruppe der Feinfühligen oder ´Frühfühler` ergeben hat. Durch seine Untersuchungen wurde der deutliche Unterschied zwischen normal reagierenden und empfindsam reagierenden Probanden sichtbar.

In den 1930er-Jahren schrieb der Schweizer Pfarrer Eduard Schweingruber ein Buch über den sensiblen Menschen. Seine Merkmalsbeschreibungen decken sich auffallend mit denen Arons. Er plädierte für eine akzeptierende Haltung zu dieser Veranlagung und gab zugleich hilfreiche Anregung für einen stärkenden und heilenden Umgang mit der Disposition, da diese schnell unter ungünstigen und unpassenden Bedingungen leide.

Auch der Schweizer Psychologe Carl Gustav Jung befasste sich in den 1940er- und 1950er-Jahren im Rahmen seiner Typologie intensiv mit den Schüchternen, Scheuen, Stillen und Zurückhaltenden, mit den – wie er sie nannte – Introvertierten. Ebenso wie Schweingruber hielt er diesen Wesenszug für normal und beschrieb ihn nicht als Störung.

Erst viele Jahrzehnte später schloss die psychologische Forschung an diese Ergebnisse durch die Arbeiten von Aron und anderen wieder an. Seit 2013 leitet die Hamburger Psychologin Sandra Konrad die erste groß angelegte deutsche Forschung zu diesem Thema. Erstes Ergebnis ist die Bestätigung großer Teile der HSP-Messskala von Aron. Weitere Ergebnisse und Forschungsunterfangen werden folgen. (…)

Das Konstrukt der Hochsensibilität bietet sowohl für viele bislang unerklärliche als auch schwer nachvollziehbare menschliche Verhaltens- und Empfindungsweisen ein interessantes und konstruktives Modell, dem sich bislang viele Betroffene positiv zuwenden konnten. In Zeiten zunehmender Pathologisierungen und Normeingrenzungen ist dieser Erklärungsansatz menschlichen Empfindens und Verhaltens sehr unterstützend und heilsam – nicht nur für die Betroffenen selbst.“

In den Kapiteln 3 – 6 geht es um die vier Phasen des Integrationsmodells der Hochsensibilität. Elaine N. Aron hält für den Weg der Annahme der eigenen Disposition vier Schritte für notwendig: 1. Selbsterkenntnis, 2. Neubewertung, 3. Heilung und 4. Hilfe. Diese vier und weitere Aspekte finden auch im HSP-4-Phasen-Integrationsmodell von Cordula Roemer Berücksichtigung. Geistig-emotionale Integration definiert sie folgendermaßen: Den Begriff der Integration übersetzt sie mit „Hinnehmen“ oder „Hinzufügen“. Da Hochsensibilität eine Veranlagung ist, die sich auf der geistigen und emotionalen Ebene zeigt, findet dort auch der Integrationsprozess statt: bei den Gedanken, Gefühlen und im Handeln einer Person. Roemer schreibt: „Sie nehmen bei der Integration Ihrer Hochsensibilität nicht etwas von außen auf, sondern Sie integrieren etwas, was schon seit Ihrem ersten Lebenstag in Ihnen ist, aber wahrscheinlich in einem langen Dornröschenschlaf schlummerte – bis jetzt.“

 

Phase I: Die Erkenntnis – Yes, I am!

Die Erkenntnis der eigenen Hochsensibilität ist der erste Schritt zur Integration und hat damit einen ganz besonderen Stellenwert. Die Art und Weise des Entdeckens sowie die emotionale Haltung dazu prägt – zumindest in Teilen – den weiteren Umgang mit dem Wissen um Hochsensibilität. So können entweder Zweifel und Unsicherheiten oder Freude und Erleichterung in der ersten Integrationsphase überwiegen. Meist jedoch wechseln sich diese Zustände ab, sodass sich die erste Phase durchaus recht dynamisch gestalten kann.“

Solltest du die hochsensible Veranlagung bei dir vermuten, gilt es nicht nur, das Konstrukt der Hochsensibilität auf eine für dich mögliche Weise zu akzeptieren. Es gilt zudem, deine eigenen Wesenszüge, Schwierigkeiten, Bedürfnisse und Grenzen anzunehmen. Um einschätzen zu können, ob und in welcher Form du diese Veranlagung in dir trägst, sind weiterführende Informationen nötig. Fachliteratur, Artikel, Vorträge oder Biografien hochsensibler Menschen helfen dir gerade in der ersten Zeit des Erkennens, hier ein tieferes Verständnis zu erlangen.

 

Phase II: Die geistig-emotionale Integration des Phänomens

Die Phase der geistig-emotionalen Integration ist eine der zentralen Etappen im hochsensiblen Integrationsprozess.“ Sie „beginnt mit der Überprüfung der eigenen Lebensumstände in Hinblick auf die eigene feinfühlige Veranlagung. Es geht hierbei um das wachsende Verständnis von Hintergründen, Prinzipien und Zusammenhängen, die zu den typischen Belastungen eines hochsensiblen Lebens führen. Dazu gehören sowohl vergangene Erfahrungen als auch die aktuellen Alltagsbedingungen. Das Reframing, also die Umdeutung früherer schmerzhafter Erlebnisse, ermöglicht ein neues Verständnis für die damalige Situation und für sich selbst. Ein positiv verlaufendes Reframing kann zu einer inneren Versöhnung mit Menschen oder eigenen, bislang abgelehnten Persönlichkeitsanteilen führen.

Um für diesen Weg ausreichend zu Kräften und zur Ruhe zu finden, ist eine gut austarierte Komfortzone notwendig. Es gilt daher im Vorfeld Antworten auf Fragen wie „Was tut mir gut?“, „Was strengt mich zu sehr an?“, „In welchen Situationen oder bei welchen Menschen fühle ich mich wohl?“ zu finden.

Da die übermäßige Anpassung hochsensibler an Menschen und Situationen, die nicht zum eigenen Wesen passen, enorm viel Energie kostet, ist die Bewusstwerdung des eigenen Verhaltens eine weitere zentrale Bedingung für eine positive Integrationsgestaltung. Die Auswirkung des überhöhten Anpassungsverhaltens zeigt sich in der Regel in einer diffusen Identität. Nicht selten wurde auf diesem Weg ein sogenanntes „falsches Selbst“ entwickelt. Wer sich übermäßig stark anpasst, grenzt sich nicht genügend ab. Auch dies ist eine große Schwierigkeit vieler feinfühliger Menschen. (…) Dies alles, Anpassung, falsches Selbst und fehlende Abgrenzung können zu einem schlecht ausgebildeten Selbstwertgefühl führen. (…)

Der hochsensible Energiehaushalt ist vielen Erschütterungen ausgesetzt. Dazu gehört auch das meist große Bedürfnis nach Perfektion (…). Logische Folge solcher Beanspruchungen kann erhöhter Stress sein. Da Anpassung, ungünstige frühkindliche Prägungen, Ängste oder mangelnder Selbstwert noch das ihre zu solch ungünstigen Bedingungen beitragen, wundert es nicht, dass sich die Belastungen über die Jahre hinweg zu einem Dauerstress aufsummieren. Daher sind psychische Belastungen und Störungen keine Seltenheit bei hochsensiblen Menschen. Inwieweit sie tatsächlich der feinfühligen Veranlagung oder anderer Erlebnisse zu schulden sind, sollte in einem unterstützenden Setting in Form von Beratung, Coaching oder Psychotherapie geklärt werden.“

 

Phase III: Die praktische Integration der Hochsensibilität

Die dritte Phase des hochsensiblen Integrationsprozesses ist durch viele praktische Schritte gekennzeichnet. „So steht in der Regel das Bedürfnis nach Kontakt mit anderen hochsensiblen Menschen ganz oben auf der Wunschliste.“ Das Kennenlernen „Gleichgearteter“ kann zu positiven und auch irritierenden Erfahrungen des Gespiegeltwerdens und des Austausches führen.

Der nächste große Bereich, der im Zuge der aktiven Integration der eigenen Hochsensibilität geändert werden will, sind die Lebensumstände.“ Es gilt, das Leben an die eigenen Bedürfnisse und Gaben anzupassen. „Dies bedeutet, Veränderungen vorzunehmen: Altes wird losgelassen, aber das Neue ist noch gar nicht da. Leere entsteht, und leer sollte es auch eine Weile bleiben“, damit sich das Neue aus deinem Inneren heraus entwickeln kann – es soll ja zu dir passen!

Bedürfnisse und Gaben tauchen aus dem Dunst des Vergessens und der Verdrängung auf.“ Nun ist die Frage, wie du darauf eingehst, was du über das Erscheinende denkst. Welchen Raum weist du dem Neuen zu? Wo sind deine Grenzen? Um dies zu erkennen, hilft dir dein Körper als Wegweiser. Je nachdem, ob es zwackt oder sich wunderbar anfühlt, zeigt er dir wie ein Kompass die Richtung an. Manche Menschen unterstützen dich dabei, anderen gegenüber braucht es klare Grenzen, um dein neu entdecktes Wesen zu wahren.

Auch der Umgang mit den vielen Reizen unserer Zeit will neu erlernt beziehungsweise austariert werden. Die Fülle der Stimuli ist vielfältig, und nicht alle kommen von außen. So sorgt das rege Innenleben oft für viel Beschäftigung im Kopf – manchmal zu viel und durcheinander. Ordnung und gezielte Gedankenausrichtung beruhigen die Vielfalt.“

Bei so viel Innenschau und Umgestaltung melden sich auch alte Ängste zu Wort. Wie viel Gehör schenkst du ihnen? Wann wird es dir zu viel, oder ist es gar zu wenig? Das Austarieren der Komfortzone ist der eine Schritt, sie wieder zu verlassen und dich selbst und die Welt zu erkunden ein anderer.

 

Phase IV: Der sichtbare Hochsensible

Veränderung geschieht von innen nach außen. In der letzten Phase des Integrationsprozesses geht es darum, die Hochsensibilität auch bewusst für andere sicht- und fühlbar werden zu lassen und das Umfeld zu informieren oder zu verändern – ganz nach deinen Ambitionen und Möglichkeiten. Es gilt, zu deinen Bedürfnissen, Grenzen, Fähigkeiten und Gaben zu stehen. Dazu gehört der Lernprozess, Verdrängtes wieder auszudrücken und durch die Umsetzung deiner Bedürfnisse einen Positivkreislauf in Gang zu bringen. „Dieser Positivkreislauf ist eine notwendige Basis, um mit und für die Hochsensibilität zu wirken. (…) Hochsensible Qualitäten werden immer und überall gebraucht, auch wenn es nicht immer allen bewusst ist.“ Roemer bezeichnet Hochsensibilität als eine Schatztruhe, die zum Wohle aller gezeigt und gelebt werden sollte. Aber dies ist nur möglich, wenn du selbst diese Schätze birgst, vom Staub und Rost der Vergangenheit befreist und sie funkeln und strahlend wieder zur Verfügung bereitstellst – für dich selbst und für alle!

 

Meine Meinung

Zwar kann ich nicht behaupten, alle Bücher zum Themengebiet gelesen zu haben, aber abgesehen von Elaine Arons Pionierwerken zum Thema Hochsensibilität ist Cordula Roemers Buch für mich DAS Standardwerk aus dem deutschsprachigen Raum. Fundiert und differenziert und gleichzeitig ausgesprochen empathisch und damit meiner Meinung nach ein Must!

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Foto: Pixabay

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