Die Verbindung des heutigen Buches zu meiner Praxis für Entspannung, Meditation, Persönlichkeitsentwicklung und Psychotherapie EINKLANG-HARBURG erschließt sich quasi von selbst.
Joachim Bauer: Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens. München 2015
Der Klappentext
Über das „Plädoyer für mehr Selbstfürsorge“: „Wie können wir besser auf uns achten und Einfluss darauf nehmen, welchen inneren Impulsen und äußeren Reizen wir folgen wollen? Der Arzt, Neurowissenschaftler und Bestseller-Autor Joachim Bauer zeigt: Nur wer innehalten und abwägen kann, vermag das Leben in Einklang zu bringen mit längerfristigen Zielen und Wünschen. Dieses Buch weist den Weg, wie wir unser eigenes wahres Leben leben und zu uns selbst, unserer ureigenen Identität finden können.“
Der Autor
Joachim Bauer forscht und lehrt an der Universität Freiburg und an der International Psychoanalytic University in Berlin. Für seine Forschungsarbeiten erhielt er den Organon-Preis der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie. Er veröffentliche zahlreiche Bestseller.
Das Buch
Der erste Satz des ersten Kapitels lautet: „Mit Selbststeuerung lässt sich im Leben vieles, ohne sie nichts erreichen.“ Unter Selbststeuerung versteht der Autor weder „genussfeindliche Selbstkontrolle“ oder „menschenverachtend überdrehte Disziplin“ noch eine „ungebremste Herrschaft von Affekten oder Impulsen“. Seiner Meinung nach gehört die Fähigkeit zur Selbstkontrolle zum Menschsein dazu und er schreibt: „Der tiefe Sinn der Selbstkontrolle liegt nicht in einem gegen die Bedürfnisse der eigenen Person gerichteten Kampf, sondern in der Bewahrung sozialer Verbundenheit und in optimaler Selbstfürsorge“, und: „Die Aufgabe guter Selbststeuerung besteht darin, die sich aus dem neurologischen Trieb- und Basissystem meldenden spontanen Wünsche und Impulse gegen längerfristige Eigeninteressen abzuwägen.“ Bauer definiert Selbststeuerung als „ganzheitliche Selbstfürsorge“, die in der Kunst besteht, „Impulse und deren Kontrolle miteinander zu verbinden.“ Dabei verweist er auf die Hirnforschung, die im menschlichen Gehirn zwei Systeme unterscheidet:
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bottom-up:
ein triebhaftes, sozusagen von unten her agierendes Trieb- oder Basissystem und
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top-down:
ein darauf aufbauendes, zweites System mit Sitz im Stirnhirn, dem sogenannten Präfrontalen Cortex; es wirkt nach unten zurück und kann das Basissystem kontrollieren, wenn es hinreichend gut entwickelt ist; es ermöglicht also Selbstkontrolle.
Im Gegensatz zur Selbstkontrolle schließt Selbststeuerung die Fürsorge für beide Systeme, also auch das Trieb- oder Basissystem, mit ein. „Der Mensch sollte mit all seinen inneren Anteilen in Frieden leben. Askese um ihrer selbst willen ist kein sinnstiftendes Projekt.“
Ich komme gleich zur Schlussbetrachtung und dem Resümee aus dem siebten und letzten Kapitel, um danach noch einmal die Inhalte der sechs vorhergehenden Kapitel zu beleuchten:
Lebewesen verarbeiten und bewerten alle von außen und aus dem eigenen Inneren eintreffende Reize, bevor sie mit einem bestimmten Verhalten reagieren. Das nennt man Selbstorganisation. Beim Menschen spielt sich ein Teil dieser Selbstorganisation im Bewusstsein ab. Dort werden äußere und innere Reize Gegenstand unserer Reflexion. Wir können in einer bestimmten Situation verschiedene Verhaltensweisen entwerfen, ihre möglichen Folgen bedenken und sie gegeneinander abwägen. Dadurch entstehen Freiheitsgrade des Verhaltens, der freie Wille. „Neurobiologische Grundlage der Fähigkeit des Menschen zur Selbststeuerung sind im Stirnhirn, im Präfrontalen Cortex lokalisierte neuronale Netzwerke. Deren regelrechte Entwicklung erfordert in den ersten beiden Lebensjahren eine liebevolle (…) Hinwendung zum Kind. Sie ist die Voraussetzung für die sich daran anschließende Entwicklung des kindlichen Selbst (…).“ Im dritten Lebensjahr entwickelt sich im Kind langsam die „Fähigkeit, eigene Impulse zu bremsen oder zurückzuhalten.“ In diesem Zusammenhang betont Bauer die Wichtigkeit eines ebenso liebevollen und transparenten, wie auch konsequenten Erziehungsverhaltens der Bezugspersonen.
Das Buch ist in sieben Hauptkapitel unterteilt:
1.) Freiheit durch Selbststeuerung
Im ersten Kapitel erläutert Bauer, weshalb Selbststeuerung Selbstfürsorge ist, welchen Sinn und Zweck eine gute Selbststeuerung hat, welche Rolle die Perspektivübernahme spielt, betrachtet den freien Willen aus philosophischer Perspektive und der der Hirnforschung und hängt einige hochinteressante Überlegungen zu Freuds Unbewusstem an.
2.) Selbststeuerung lernen
Joachim Bauer erklärt im zweiten Kapitel, inwieweit soziale Erfahrungen das Gehirn formen. Er stellt die spektakuläre Langzeituntersuchung von Dunedin/Neuseeland an 1000 zwischen 1972 und 1973 geborenen Kindern vor. Eines der zentralen Ziele dieser Studie war es, „bei den Kindern eines ganzen Jahrgangs entlang der ersten elf Lebensjahre die Entwicklung der Fähigkeit zur Selbstkontrolle zu beobachten und zu untersuchen, wie sich der Verlauf dieser Entwicklung auf das spätere Leben dieser Kinder auswirken würde.“ Es folgt die Darstellung eines weiteren interessanten Experiments aus den USA zur Erforschung der kindlichen Selbstkontrolle am Beispiel des Naschens. Darauf folgen Ausführungen zum Zusammenhang zwischen kindlicher Selbstkontrolle und verlässlichen Erwachsenen und dass Selbstkontrolle auch eine Frage der Erziehung sind. Diese Überlegungen gehen bis zu den provokativen Fragestellungen, ob unser familiäres und staatliches Erziehungswesen die Voraussetzungen für eine gute Selbststeuerung sichern, wir es gerade mit einer neuen Variante von Schwarzer Pädagogik zu tun haben und ob Ganztagsschulen „Aufbewahrungsorte statt Treibhäuser der Zukunft“ sind.
3.) Selbststeuerung: Leben gegen den Strom
Das dritte Kapitel widmet Bauer der Macht des Mainstreams und dem zunehmenden Verlust einer gesunden Balance zwischen kurzfristigen Bedürfnissen und längerfristigen Interessen im Kontext einer süchtigen Gesellschaft. Er untersucht die Fähigkeit zur Selbstkontrolle in Deutschland, besonders im Hinblick auf den Gebrauch moderner Medien. Der Autor betont die Bedeutung des Glaubens an die Zukunft und die Notwendigkeit einer Entwicklung hin zu weniger Stress und mehr Selbststeuerung und schließt mit Gedanken zu den gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen gelingender Selbststeuerung ab.
4.) Die sublime Unterwanderung des freien Willens
Bauer diskutiert im ebenso herausfordernden vierten Kapitel folgenden Sachverhalt: „Nur ein kleiner Teil dessen, was die Wahrnehmung des Menschen erreicht, findet auch Eingang in unser Bewusstsein. Allerdings hindert dies die zahlreichen nicht bewusst registrierten Wahrnehmungen nicht daran, in uns eine Wirkung zu entfalten. Von unserem Bewusstsein nicht registrierte Signale können unser Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen, was bedeutet, wir können unterwandert werden.“
Er spricht dann drei Wege der sublimen Unterwanderung unserer Selbststeuerung an: 1. die sogenannten „Priming“-Effekte, 2. das System der Spiegelneuronen und 3. bestimmte Effekte aufgrund von Zuschreibungen, die im englischen Sprachraum als „stereotype threat“ bezeichnet werden.
1. Die Effekte des „Priming“
Unser Denken, Fühlen und Handeln sind durch äußere Einflüsse veränderbar – das fängt schon mit dem Wetter an, das unsere Laune beeinflusst. Macht man Menschen diesen Zusammenhang jedoch bewusst, löst sich z.B. die Wirkung des Wetters auf die Stimmung in der Regel sofort auf. An diesem Beispiel demonstriert Bauer „die bevorzugt unbewusste Wirkungsweise des sogenannten Primings. Der Begriff beschreibt die Tatsache, dass Worte, Bilder oder Szenen beim Menschen zu einer inneren Voraktivierung führen, die seine nachfolgenden Verhaltensweisen in einer bestimmten Weise beeinflussen. Dies lässt sich für die gezielte, unmerkliche Beeinflussung anderer nutzen und damit zu einer Unterwanderung von deren freien Willen missbrauchen.“
In sozialpsychologischen Tests wurden zahlreiche Varianten dieses Effekts dargestellt. So wurden z.B. jungen Testpersonen längere Wortserien aus der Welt der Senioren wie „grau“, „schwerhörig“ und „Hautfalten“ vorgelegt und man stellte fest, dass diese beim anschließenden Gang in ein Nebengebäude signifikant langsamer als Vergleichspersonen gingen. Außerdem erzielten sie beim dort statt findenden Gedächtnistest deutlich schlechtere Leistungen als die Vergleichsgruppe. Auch zeigen Menschen, die man zunächst beiläufig nach ihren Freunden befragt, „in anschließenden Verhaltensexperimenten ein deutlich kooperativeres Verhalten.“ Personen, denen ein Platz im Chefsessel angeboten wurde, nahmen in anschließend durchgeführten Experimenten deutlich weniger Rücksicht auf die Meinung anderer als Personen, die auf einem normalen Stuhl saßen. Allerdings lösten sich all diese Effekte in Luft auf, sobald der Zusammenhang aufgeklärt wurde. Diese Beobachtungen zeigen, dass Unwissenheit Manipulierbarkeit bedeutet und es ohne Aufklärung keinen freien Willen gibt. Umgekehrt können sinnvoll eingesetzte Effekte unmerklicher Beeinflussung das menschliche Zusammenleben schöner machen, wenn man z.B. an einen angenehm gestalteten Eingangsbereich einer Behörde oder eines Krankenhauses denkt.
2. Das System der Spiegelneuronen
„Spiegelnervenzellen sind neuronale Netzwerke, die aktiviert werden, wenn Abläufe, die sie im eigenen Körper auslösen könnten, tatsächlich nicht im eigenen, sondern im Körper eines anderen Menschen stattfinden.“ Ein Beispiel: Es liegt zweifellos an den Spiegelneuronen, wenn eine Person im S-Bahn-Abteil gähnt und plötzlich alle anderen ebenfalls gähnen müssen. Oder wenn du spontan und unbewusst das Gesicht verziehst, wenn deine Freundin dir detailliert von ihrer Zahn-OP berichtet…
„Spiegelneuronen lassen uns fühlen, was andere fühlen, und intuitiv verstehen, was andere tun. Sie bilden nicht nur einen Teil der neuronalen Grundlagen der Empathie, sondern auch die neurobiologische Basis für die sogenannte emotionale Ansteckung oder für unbewusst ausgelöste Imitationshandlungen. Daraus ergeben sich Möglichkeiten, andere zu manipulieren. Und genau das ist es, woran Verkäufer, Werbeleute und die Organisatoren politischer Kampagnen interessiert sind.“
Nicht nur die Beobachtung von Handlungen, sondern auch das Lesen oder Hören von Wörtern kann eine Macht haben, „mit der man das Befinden, Fühlen und Denken anderer Menschen – und damit auch deren freien Willen – verändern kann.“ Und: „Spiegelneurone können auch ohne Beteiligung des Bewusstseins in Resonanz gehen.“
Natürlich kann es auch ein Zusammenspiel der beschriebenen Effekte geben. So schreibt der Autor: „Eine Mischung aus Priming-Effekten und einer durch die Spiegelnervenzellen hervorgerufenen emotionalen Ansteckung scheint der Beobachtung zugrunde zu liegen, dass Menschen in Umgebungen, wo viel Müll herumliegt und Wände mit Graffiti beschmiert sind, sich selbst signifikant schlechter benehmen, Abfall wegwerfen und Ähnliches tun.“
3. Der „Stereotype Threat“
Dieser Effekt erklärt die Auswirkungen, die negative oder bedrohliche Zuschreibungen anderer Menschen auf die jeweils Betroffenen haben. Sie sind „eine wissenschaftlich gut untersuchte Methode, mit der sich das Erleben und Verhalten anderer nicht nur auf bewusst wahrnehmbare Weise, sondern auch unbemerkt beeinflussen lässt.“ Ein gutes Beispiel ist das Vorurteil, dass Mädchen und Frauen schwach in Mathe sind. Experimente zeigen, dass sie dazu tendieren, diese Zuschreibungen – unbewusst und unwillentlich – zu bestätigen. Zuschreibungen dieser Art sind v.a. dann wirksam, wenn man die Zugehörigkeit einer Person zu ihrer stigmatisierten Gruppe vorher thematisiert hat. Das ist z.B. der Fall, wenn bei einem Mathematiktest zu Beginn in einem Fragebogen das Geschlecht anzukreuzen ist. Überall im Alltag können die „fatalen Auswirkungen von Vorurteilen auf diskriminierte gesellschaftliche Minderheiten“ beobachtet werden. Zuschreibungen führen zu Selbstzweifeln, die wiederum auf den Präfrontalen Cortex wirken und durch eine Störung der Selbstkontrolle folglich auch Autonomie, Selbststeuerung und den freien Willen beeinträchtigen. Das Ziel sollte es nach Bauer sein, „Beeinflussungsprozesse mithilfe der Vernunft aufzudecken, zu erkennen und sich ihnen zu stellen.“
Ans Ende des Kapitels stellt Joachim Bauer die Erkenntnis, „dass von den in uns vonstattengehenden Meinungs- und Willensbildungsprozessen nicht nur – via Selbstkontrolle – starke Wirkungen auf uns selbst ausgehen. Was wir denken und kommunizieren, erreicht, ohne jeden Einsatz physischer Mittel, auch den Organismus unserer Mitmenschen und ruft dort biologische Wirkungen hervor. Dass Gehirne von Menschen, die sich unter dem Beschuss von sozialen Vorurteilen befinden, signifikant schlechter arbeiten, beruht, da alle mentalen Prozesse eine neurobiologische Fundierung haben, ohne Frage auf einem biologischen Effekt.“
5.) Aktivierung der Selbststeuerung: Ein Kriterium guter Medizin
Im nicht minder fesselnden fünften Kapitel geht der Autor auf die nicht ausgeschöpften Potenziale der Schulmedizin durch die mangelnde Beteiligung der Psyche ein. Er führt die Rolle der Mitmenschen als starkes Medikament aus, stellt eine krank machende Kommunikation einer empathischen und transparenten auf Augenhöhe gegenüber und beschreibt sowohl den Prozess der Aktivierung des „inneren Arztes“ in Patienten als auch den Einfluss des ärztlichen Wortes auf die Selbststeuerung erkrankter Personen. Er beschließt das Kapitel mit der Unterscheidung zwischen der Art und Weise der Mitteilung einer Diagnose als Teil der Lösung oder Teil des Problems.
6.) Hoheitsgebiet der Selbststeuerung: Die persönliche Gesundheit
Joachim Bauer befasst sich im letzten Kapitel vor der Schlussbetrachtung mit der Betrachtung dessen, wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gebe steuern und welche Begünstigungs- und Schutzfaktoren für Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen existieren. Er stellt die Frage nach dem freien Willen von Gewohnheitsmenschen und Suchtgefährdeten, schaut in die kognitive Trickliste des Geistes und beschreibt die Mechanismen der Durchsetzung und Verankerung von Verhaltensänderungen im Alltag. Bauer schreibt über Krankheit als Herausforderung zur Veränderung und zur Stärkung der Selbst-Kräfte, die Unverzichtbarkeit einer evidenzbasierten Medizin und die Zuwendung zur eigenen Person und nicht zuletzt über Selbststeuerung als Demenzprophylaxe.
Mein Fazit:
Ein anspruchsvolles, herausforderndes und ausgesprochen lesens- und diskussionswürdiges Buch. Allgemein bekannte Zusammenhänge werden mit neueren Erkenntnissen aus der Hirnforschung in einem ganz anderen Licht betrachtet. Ein kluges Buch, das trotz Bauers Hang zu langen Wortschöpfungen und verschachtelten Satzkonstruktionen aufgrund der guten Struktur, des spannenden Inhalts und der persönlichen Einstreuungen des Autors gut zu lesen ist. Alle Kapitel sind total spannend und ich würde sie gerne mal mit ein paar klugen Köpfen diskutieren!
Mit anderen Worten:
Wenn du bis hierher durchgehalten hast, würde ich mich gerne einmal mit dir zu einem Gedankenaustausch dazu beim Lunch oder beim Kaffee zusammensetzen und sehen, was sich im Gespräch ergibt. Und falls du eher einen Beratungs- oder Coachingbedarf hast, machen wir gerne einen Termin und einen Plan! 🙂