Loslassen und Spiritualität
Philosophen und Denker beschäftigen sich mit der Frage, wie Menschen ihre spirituelle Seite entwickeln können. Dabei werden verschiedenste Wege gelehrt, die zur Erkenntnis der spirituellen Dimension des Seins führen sollen. So verschieden diese Wege und ihre einzelnen Schritte auch sind, alle Ansätze haben gemeinsam, dass sie die Notwendigkeit des Loslassens lehren.
Eines Tages suchte ein Gelehrter einen spirituellen Meister auf und bat ihn, ihn in den Pfad der Weisheit einzuführen. Der Meister gab darauf nichts zur Antwort, sondern goss seinem Besucher eine Tasse Tee ein. Die Tasse war längst gefüllt, doch der Meister goss weiter ein, so dass die Tasse überlief und der Tee sich auf dem Boden verteilt. „Was tut ihr da?“, fragte der Gelehrte ärgerlich. „Ihr seid wie diese Teetasse“, antwortete der Meister. „Angefüllt bis zum Überfließen mit Ansichten, Plänen und Wünschen. Solange Ihr Eure Tasse nicht ganz geleert habt, ist darin kein Raum für die Weisheit, die ihr sucht.“
Jeder spirituelle Pfad enthält das Element des Loslassens.
Sich von Gewissheiten lösen
Deine spirituelle Seite zu würdigen bedeutet zu akzeptieren, dass es unabdingbar zu deinem Leben gehört, zu wachsen, dich zu verändern und an dir zu arbeiten. Dazu gehört für viele sicher auch die Bereitschaft, überkommene religiöse Gewissheiten in Frage zu stellen, wie sie von den einzelnen Traditionen gelehrt werden. Die Voraussetzung dafür ist, sich von Bewertungen und Polaritäten wie „gut“ und „böse“ zu verabschieden und dich auf das Abenteuer einzulassen, alte Dinge in einem neuen Licht zu betrachten. Alte Sichtweisen loszulassen kann bisweilen beängstigend und verwirrend erscheinen, ermöglicht dir aber ungeahnte neue Erfahrungen.
Um einen spirituellen Pfad zu beschreiten ist es unabdingbar, dich anderen Perspektiven zu öffnen und dich auf neue Interpretationen scheinbarer Wahrheiten einzulassen.
Loslassen, was nicht zu unserem Wesenskern gehört
Graf Dürckheim bezeichnet den spirituellen Weg als Kontaktaufnahme mit deiner innersten Essenz, die sich nach einer innigen Verbindung mit dem „ganz Anderen“ sehnt. Um aber mit deiner innersten Essenz in Kontakt zu treten, musst du deine weltlichen Sorgen zunächst einmal loslassen.
Dein weltliches Ich ist im Alltag so sehr mit der Erfüllung materieller Bedürfnisse und den täglichen Anforderungen beschäftigt, dass kaum noch Zeit bleibt, mit deinem Wesenskern und dem ganz Anderen in Verbindung zu treten. Erst wenn du behutsam alles loslässt, was nicht wesentlich zu dir gehört, kann deine spirituelle Seite sich entwickeln und wachsen.
Sich frei machen von Werturteilen
Deine spirituelle Seite zu entwickeln bedeutet außerdem, auf Werturteile über dich selbst und deine Mitmenschen zu verzichten. Wir haben uns alle im Laufe unseres Lebens angewöhnt, Menschen und Geschehnisse in Schubladen zu stecken: die Guten und die Bösen, die Gewinner und die Verlierer, die, die dazugehören und die, die es nicht tun usw. Solche Kategorien helfen dir zwar auf den ersten Blick, leichter mit der Welt klar zu kommen. Allerdings wiegen sie dich in falscher Sicherheit, weil sie dir den Eindruck vorgaukeln, alles im Griff zu haben. Daher sind diese Schubladen nicht mit wahrer Spiritualität vereinbar.
Wenn du zu deinem Wesenskern finden möchtest, lass dein Schubladendenken und deine Werturteile los. Die anderen sind eigenständige Menschen und wir haben keinerlei berechtigte Ansprüche an sie. Deine einzige Aufgabe ist, ihnen mit Offenheit zu begegnen und sie zu ermutigen, ihren Weg zu gehen – auch, wenn dies ein völlig anderer als deiner ist und du ihn nicht verstehst. Jeder ist selbst für sein Leben verantwortlich. Und jeder von uns kann Zugang zur spirituellen Dimension finden. Eine Voraussetzung dafür ist, loszulassen.
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frei zusammengefasst nach Rosette Poletti & Barbara Dobbs: Loslassen. Der Weg zu einem befreiten Leben. München 2014
Foto: Pixabay