Von wegen Selbstmitgefühl entwickeln: Wie gehst du mit dir um, wenn es dir schlecht geht?
Teste dein Selbstmitgefühl:
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Wie gehst du mit einem geliebten Menschen um, der sich schlecht fühlt und glaubt, nicht genug zu sein?
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Wie gehst du normalerweise mit dir selbst um, wenn du dich schlecht fühlst und glaubst, nicht genug zu sein?
Was sagst du zu dir selbst?
In welchem Ton sprichst du mit dir selbst?
Was tust du?
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Hast du einen Unterschied festgestellt?
Wenn ja, welchen?
Der innere Kritiker
Die Mehrheit der Menschen stellt fest, dass sie anderen gegenüber verständnisvoll sind, aber sich selbst strenger und kritischer betrachten. Andere stellen fest, dass sich ihre harte Haltung sich selbst gegenüber auch auf den Umgang mit anderen übertragen hat. Warum fällt es uns leichter, anderen gegenüber mitfühlend zu sein als mit uns selbst?
Christine Brähler schreibt: „Hier ist ein Mechanismus am Werk, der uns meist nicht bewusst ist. Wenn wir jedoch anfangen, ihn zu durchschauen, wird es einfacher, aus diesem Automatismus auszusteigen. Unser Organismus ist evolutionär so eingerichtet, uns vor Gefahren zu schützen und unser Überleben zu sichern. (…) Schmerzen – egal ob körperlich oder emotional – sind also ein starkes Warnsignal. Es ist somit verständlich, dass Körper und Geist auf Schmerz mit Abneigung reagieren, mit einem Gefühl des Nicht-haben-Wollens.“
Unser Gehirn ist primär zum Überleben da und nicht zum Glücklichsein. Um zu überleben, brauchen wir die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Daher sind wir alarmiert bei jedem Verhalten, „das uns in den Augen der anderen als unattraktiv oder minderwertig erscheinen lassen könnte. Da solche Verhaltensweisen zur sozialen Ausgrenzung führen könnten, bekämpfen wir sie oft selbst, indem wir uns selbst abwerten und angreifen in der Hoffnung, dass wir uns dadurch verbessern. Ein weit verbreiteter Schutzmechanismus ist die Selbstverurteilung, der innere Kritiker. Er zeigt sich als gnadenlos richtende und vernichtende Stimme. Ihr Ton ist unfreundlich, hart, fordernd bis offen feindselig. Er will uns meist auf verquere Weise davor schützen, von anderen abgelehnt zu werden. „Wenn er uns selbst so streng verurteilt, so die dahinterstehende Logik, könnten wir der Kritik von außen entgehen und die Beziehung zu anderen aufrechterhalten. Leider verfehlen solche gnadenlose Richter ihr Ziel und fördern stattdessen Angst und Depression.“
Gedankenexperiment
Hilft der innere Kritiker dir in deinem Leben? Wenn nicht, bist du bereit, etwas Neues auszuprobieren? Ich lade dich ein, deinem inneren Kritiker für seine Bemühungen zu danken und Raum für eine liebevolle Stimme entstehen zu lassen. Nur wenn Liebe und nicht Angst oder Hass die treibende Kraft hinter deinem Handeln ist, führt es zu Zufriedenheit und Erfüllung.
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Was empfindest du derzeit in deinem Leben als belastend?
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Auf welche Art und Weise leistest du Widerstand gegen diese Belastung?
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Verurteilst du dich für diese Belastung? Ist diese Verurteilung gerechtfertigt?
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Welche Auswirkungen hat der Widerstand auf dein Wohlbefinden?
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Was brauchst du, um Verantwortung für dein Leid zu übernehmen? Was würde helfen, das Leid zu lindern?
Wir wollen Leid erst einmal nicht haben. Da wir Menschen mit Leid und Ungewissheit nicht gut leben können, versuchen wir eine plausible Erklärung zu finden, z.B. für eine gruselige Krankheitsdiagnose. Wir suchen nach Schuldigen – entweder sind es wir selbst oder die anderen. Mitgefühl fragt aber nicht nach Schuld, sondern: „Wie kann ich dir helfen? Was brauchst du, um Verantwortung für das Leid zu übernehmen, das dir mit deinem oder ohne dein Zutun widerfahren ist?“
Mit anderen Worten: „Wir sind nicht schuld daran, dass uns Leid widerfährt, aber wir können Verantwortung dafür übernehmen, es innerhalb unserer Möglichkeiten zu lindern und vorzubeugen.“
Mit der Zeit und mit einiger Übung in Achtsamkeit und Selbstmitgefühl kannst du lernen, dich selbst zu umsorgen und zu trösten, wenn es dir nicht gut geht. Mitgefühl basiert auf unserer Fähigkeit, Fürsorge anzunehmen und zu geben. „Körperliche Wärme, beruhigende Berührungen, ein freundlicher Gesichtsausdruck und eine sanfte Stimmfärbung helfen dabei, unser Fürsorgesystem zu aktivieren und somit Zugang zu einer mitfühlenden Haltung uns selbst gegenüber zu finden.“
Die drei Aspekte von Selbstmitgefühl
Die amerikanische Psychologin Kristin Neff hat die Wirkung von Selbstmitgefühl intensiv erforscht. Nach ihrem Verständnis umfasst es drei Komponenten:
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Gelassenes Gewahrsein:
Anstatt dein Leid entweder zu verdrängen oder dich darin zu verstricken spürst du die Belastung im Körper und erkennst an, dass du gerade leidest.
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Gemeinsames Menschsein:
Anstatt dich innerlich oder äußerlich zurückzuziehen, erinnerst du dich daran, dass Leid (wie Krankheit, Altern, Verluste, Versagen und Verletzungen) zum Leben dazugehört und dass alle Menschen schwierige Zeiten durchleben. Das kann helfen, dich wieder verbunden zu fühlen.
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Selbstfreundlichkeit:
Anstatt dich selbst zu verurteilen, begegnest du dir mit Freundlichkeit.
Selbstgefühl ist die Fähigkeit zu erkennen, dass du gerade eine leidvolle Erfahrung machst, dich diese spüren zu lassen und dich selbst liebevoll dabei zu umsorgen – auf mentale, emotionale und körperliche Weise oder durch ein bestimmtes Verhalten.
Was ist Selbstmitgefühl und was nicht?
Da die Wortneuschöpfung „Selbstmitgefühl“ häufig missverstanden wird, stellt Brähler die folgenden Thesen auf:
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Selbstmitgefühl fördert nicht Maßlosigkeit und kurzzeitige Befriedigung, sondern nachhaltig fürsorgliches Verhalten.
→ Studien zeigen, dass Menschen mit mehr Selbstmitgefühl gesündere
Verhaltensweisen haben und diese auch eher aufrechterhalten können.
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Selbstmitgefühl ist kein Selbstmitleid.
→ Beim Selbstmitleid fühlst du dich alleine in deiner Not, kreist darum und
verstrickst dich. Dahinter verbirgt sich meist die Sehnsucht, von einem
anderen Menschen in der Not gesehen und gehört zu werden und
Zuwendung zu bekommen. Als Mensch mit mehr Selbstmitgefühl bist du
stärker fähig, dich in andere hineinzuversetzen und dir bewusst zu machen,
dass du in deinem Leid nicht alleine bist.
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Selbstmitgefühl untergräbt nicht den Ehrgeiz oder die Leistungsfähigkeit.
→ Selbstmitgefühl motiviert dich von innen heraus, Ziele zu verfolgen, die
deinen Werten entsprechen. Und es hilft dir, dich als fehlbaren Menschen zu
sehen und deine Ziele mit weniger Angst vor dem Scheitern zu verfolgen.
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Selbstmitgefühl macht dich nicht schwach.
→ Vielmehr stärkt es deine emotionale und körperliche Widerstandsfähigkeit.
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Selbstmitgefühl macht dich nicht egoistisch.
→ Fürsorge dir selbst gegenüber ist die Basis für Fürsorge für andere.
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Text abgewandelt entnommen aus dem Buch:
Christine Brähler; Selbstmitgefühl entwickeln. Liebevoller werden mit sich selbst. München 2015
Foto: Pixabay