Die Sprache eines Baums
Heilig ist die Sprache des Baums.
In den drei Ebenen des Lebens steht er,
in den drei Stockwerken der Welt.
Mit den Wurzeln ist er in der Erde verhaftet,
saugt Wasser aus ihr und treibt es in die Höhe.
Mineralien nimmt er auf
und verwandelt sie in Nahrung.
Mit seinem Stamm bewohnt er die Endlichkeit der Welt
und ist einer unter uns.
Mit seiner Krone berührt er den Himmel,
zieht den Segen der Luft zu sich herunter,
der den Stamm entlang bis zu den Wurzeln fließt.
Auch ich stehe in drei Welten:
verwurzelt in der Erde bin ich hier,
begrenzt, endlich, sterblich.
Lehm haftet an mir, ich kämpfe mit den Widerständen,
ich leide und gebe nicht auf.
Mit meinem Leben,
mit der Wucht meines Stammes,
mit der Kraft meines Willens
strebe ich nach oben,
nehme mein Leben in die Hand.
Und mit meinem Geist,
mit den Fasern meines Wesens,
mit denen ich mich ausstrecke,
erreiche ich den Himmel,
diese Wirklichkeit, die jenseits
und doch in dieser Welt liegt.
Ich bin die Dorfeiche inmitten der Menschen,
die sich windende Weide am Straßengraben,
die gepünktelte Platane im Park,
umgeben von spielenden Kindern,
die legendäre Linde,
unter der Versprechen gegeben und gehalten werden,
ich bin die Methusalah bristelecone pine,
die uralte graue Grannenkiefer
in den White Mountains von Kalifornien,
oder die alte Esche Yggdrasil
aus der nördlichen Mythologie,
die mit ihrer Krone Himmel, Hölle und Erde
in der Mitte der Welt verbindet.
Auch ich verbinde die drei in mir
und auch ich verwandle die Materie meines Lebens
in lebendigen Geist,
den Schmerz in Tiefe
und das Dunkel in Licht.
Ulrich Schaffer*
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*Ulrich Schaffer: Entdecke das Wunder, das du bist. Freiburg 2017
Foto: Pixabay